Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
schüttelte beharrlich den Kopf und behauptete, es sei nur ein Kratzer. Er führte uns durch die zwei Waggons, aus denen der Zug des Barons noch bestand. Im ersten fanden wir die ausgestreckte Leiche des langen Butlers, den Holmes beim Betreten des Wagens mit seiner Kugel getroffen hatte. In einer Ecke verkrochen, saß jammernd, die herrlichen Züge in unbeherrschter Hysterie verzerrt, die Frau, die so überzeugend die Baronin von Leinsdorf gespielt hatte. Sie reagierte nicht, als wir vorbeikamen, sondern saß nur schluchzend wie ein verhätscheltes Kind da und wiegte sich wild hin und her. Der Wagen selbst war so luxuriös ausgestattet wie die Wiener Villa des Barons. An den Wänden, zwischen den Fenstern und Wandbehängen, waren zur Zierde Waffen angebracht und daher stammten auch die Säbel, die Holmes und der Baron benutzt hatten. Wir standen still, um all die Pracht zu bestaunen, aber Holmes drängte uns voran.
»Schnell!« beschwor er uns mit immer schwächer werdender Stimme. »Schnell!«
Er trat in den ersten Wagen, der das Gepäck enthielt – und zwar in großer Menge. In verzweifelter Hast begannen wir unter der Aufsicht des Detektivs die Suche zwischen den zahllosen Koffern aufzunehmen.
»Suchen Sie nach den Luftlöchern«, keuchte Holmes. Er hatte sich schwer auf den Säbel gestützt und lehnte sich zudem noch gegen das vergitterte Fenster.
»Hier!« rief Freud plötzlich aus. Er ergriff den Säbel und ließ ihn hinter das Schloß eines enormen Koffers gleiten. Mit aller Kraft gelang es ihm, den Riegel zu lösen, und dann warfen wir gemeinsam die Spangen zurück und brachen den Deckel auf.
Und da saß sie, lebendig und unverletzt, in demselben Zustand, in dem wir sie das letzte Mal gesehen hatten – die blaugrauen Augen offen, aber leeren Blicks – Nancy Osborn Slater von Leinsdorf.
Sherlock Holmes starrte eine Weile auf sie herab. Er schwankte leicht.
»Keine Rückhand«, murmelte er, und nach kurzer Pause: »Laßt uns diese Züge anhalten –« Dann fiel er in meine Arme.
KAPITEL SIEBZEHN
Das letzte Problem
»Verhindert haben wir den Krieg nicht«, bemerkte Sherlock Holmes und stellte seinen Kognak ab. »Bestenfalls haben wir ihn verschoben.«
»Aber –«
»Es ist kein Geheimnis, daß sich die Flotten bei Scapa Flow versammeln«, erwiderte er mit einem Anflug von Ungeduld, wenn auch nicht unfreundlich, »und wenn der Kaiser wegen der Balkanstaaten gegen Rußland in den Krieg ziehen will, dann wird er Mittel und Wege dazu finden. Jetzt, wo der Baron tot und die Baronin immer noch geisteskrank ist, wäre ich nicht überrascht, zu hören, daß die Regierung das Testament für null und nichtig erklärt hat, um eine Intestaterbschaft anzutreten. Dann«, und er drehte seinen Sessel, um Freud anzublicken, wobei er darauf achtete, die Schlinge an seinem Arm nicht zu verschieben, »dann werden Sie und ich uns vielleicht auf gegnerischen Seiten wiederfinden, Doktor.«
Wir waren wieder einmal in dem vertrauten Arbeitszimmer in der Berggasse 19. Allerdings war es unser letzter Aufenthalt in diesem freundlichen Raum, dessen raucherfüllte Atmosphäre mich immer mehr an Holmes’ Wohnung in der Baker Street erinnerte.
Sigmund Freud schüttelte in melancholischer Zustimmung den Kopf und zündete sich eine Zigarre an.
»Gerade um diese Entwicklung zu vermeiden, habe ich Ihnen geholfen, aber ich kann den Wahrheitsgehalt Ihrer Prophezeiungen nicht in Zweifel stellen.« Er seufzte. »Womöglich waren alle unsere Mühen umsonst.«
»So weit würde ich nicht gehen«, lächelte Holmes, während er seine Position im Sessel noch einmal veränderte. Die Wunde in seinem Arm war nicht unkompliziert, denn der Säbel des Barons hatte einen Nerv geritzt, und jede Bewegung war schmerzhaft. Mit großer Anstrengung hielt er die Pfeife in seiner Linken, brachte sie langsam an die Lippen, um sie anzuzünden, und ließ die Hand ebenso langsam wieder sinken. »Wir haben schließlich Zeit gewonnen, das ist das entscheidende Resultat unserer Bemühungen. Können Sie sich an Marvells herrlichen Ausspruch erinnern, Watson? Hätten wir nur Welt genug und Zeit?« Er drehte sich leicht und sah mich an. »Die Welt braucht nichts mehr als Zeit. Läßt man ihr Zeit, dann wird die Menschheit vielleicht die schlechten Seiten in sich überwinden, die immer sinnlose Vergeudung und Zerstörung anstreben. Wenn unsere Arbeit nur eine Stunde Zeit gewann, den Zustand der Menschheit besser verstehen zu lernen, dann war sie nicht
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