Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
hier in Österreich geschehen war. Vielleicht sollte die Welt besser erfahren, was ihre Großen sich für sie ausheckten?
Und doch beschlossen wir zu schweigen. Wir konnten die Folgen einer solchen Enthüllung nicht absehen – wir waren beide nicht politisch versiert genug, um ihre Bedeutung zu erfassen – und, was noch schwerer wog, wir hätten Dr. Freud als Komplizen offenbaren müssen. Da er in Wien wohnen blieb, konnten wir uns dazu nicht bereit finden.
»Ich will Ihnen sagen, was ich gerne täte«, erklärte Freud schließlich und legte mit einem entschlossenen Blick auf Holmes seine Zigarre nieder. »Ich möchte Sie gerne noch einmal hypnotisieren.«
Ich hatte keine Vorstellung gehabt, um was er bitten würde (im Grunde hatte ich sogar erwartet, er werde Holmes’ Angebot ablehnen), aber dies hatte ich am wenigsten erwartet. Das galt auch für Holmes, der erstaunt aufschaute und hustete, bevor er eine Antwort gab.
»Sie wollen mich hypnotisieren? Warum?«
Freud hob mit dem gleichen ruhigen Lächeln die Schultern.
»Sie sprachen soeben vom Zustand der Menschheit«, sagte er. »Ich muß gestehen, daß dieser mich mehr als alles andere interessiert. Und da es heißt, um die Menschheit zu erkennen, müsse man den einzelnen studieren, dachte ich mir, Sie würden mir vielleicht noch einmal Einblick in Ihr Inneres gewähren.«
Holmes dachte kurz darüber nach.
»Also gut. Ich stehe Ihnen zur Verfügung.«
»Soll ich gehen?« fragte ich und erhob mich, um den Raum zu verlassen, falls Freud meine Gegenwart als störend empfand.
»Es wäre mir lieber, Sie blieben«, antwortete er, zog die Vorhänge vor und nahm noch einmal die Uhrkette zur Hand.
Es war jetzt einfacher, den Detektiv zu hypnotisieren, als damals, wo wir von der Methode so verzweifelt abhingen, um Holmes vom Kokain zu erlösen. Jetzt waren sie im Einvernehmen, nichts bedrückte sie, und sie hatten Zeit. Holmes schloß innerhalb von drei Minuten die Augen und saß reglos, geduldig auf die Anweisungen des Doktors wartend.
»Ich werde Ihnen einige Fragen stellen«, begann dieser mit leiser und sanfter Stimme, »und Sie werden mir antworten. Wenn es vorbei ist, werde ich mit den Fingern schnippen, und Sie werden erwachen. Dann werden Sie sich an nichts erinnern, was Sie während der Hypnose gesagt haben. Verstehen Sie mich?«
»Ausgezeichnet.«
»Sehr gut.« Er holte Atem. »Wann haben Sie zum erstenmal Kokain genommen?«
»Im Alter von zwanzig Jahren.«
»Wo?«
»Auf der Universität.«
»Warum?«
Keine Antwort.
»Warum?«
»Weil ich unglücklich war.«
»Warum wurden Sie Detektiv?«
»Um die Bösen zu strafen und die Gerechtigkeit zu schützen.«
»Haben Sie je eine Ungerechtigkeit mit angesehen?«
Es gab eine Pause.
»Haben Sie?« wiederholte Freud, befeuchtete seine Lippen und warf mir einen kurzen Blick zu.
»Ja.«
Ich hatte mich wieder hingesetzt und lauschte diesem Austausch mit äußerster Aufmerksamkeit und Faszination, vornübergebeugt und mit auf Knien gestützten Armen.
»Sind Sie persönlich einem Übel ausgesetzt gewesen?«
»Ja.«
»Was war es?«
Wieder zögerte der Hypnotisierte, und wieder wurde er zu einer Antwort ermutigt.
»Was war dieses Übel?«
»Meine Mutter hinterging meinen Vater.«
»Hatte sie einen Liebhaber?«
»Ja.«
»Und was war die Ungerechtigkeit?«
»Mein Vater tötete sie.«
Sigmund Freud fuhr auf und blickte einen Augenblick wild im Raum umher. Er war fast so außer sich wie ich selbst. Ich war aufgesprungen und stand wie erstarrt da, obwohl meine Augen und Ohren weiterhin funktionierten. Er erholte sich schneller als ich und beugte sich wieder vor.
»Ihr Vater hat Ihre Mutter ermordet?« *
»Ja.« Die Stimme erstickte ein Schluchzen, das mir das Herz zerriß.
»Und ihr Liebhaber?« fuhr Freud fort, während auch seine Augen zu blinzeln begannen.
»Er entfloh.«
Freud hielt einen Moment inne, um sich zu sammeln, bevor er fortfuhr.
»Was wurde aus Ihrem Vater?«
»Er nahm sich das Leben.«
Holmes blieb während des ganzen Gesprächs vollkommen reglos. Nur die Schweißperlen auf seiner Stirn verrieten etwas von seiner inneren Qual. Freud beobachtete ihn aufmerksam, als wäge er ab, wie weit er gehen könne, dann beschloß er, weiterzumachen.
»Kannten Sie den Liebhaber Ihrer Mutter?«
»Ja.«
»Wer war es?«
»Doktor –«, ich wollte ihm das Wort abschneiden. Der Name konnte heute niemandem mehr etwas bedeuten. Aber die Frage war heraus, und Holmes war bereit, sie mit
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