Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
vergebens.«
»Unsere Arbeit hat noch anderen, unmittelbaren Nutzen gebracht«, versicherte ich den beiden. »Erstens haben wir diese unglückliche Frau vor einem furchtbaren Schicksal gerettet und zweitens … »Ich zögerte und brach verwirrt ab. Holmes lachte leise und spann meine Gedanken für mich weiter.
»Und zweitens hat Dr. Freud mein Leben gerettet. Wäre ich nicht nach Wien gekommen, und hätte Ihre Kur, lieber Herr, mich nicht geheilt, dann wäre mir sowohl dieser als auch mancher andere interessante kleine Fall entgangen, den das Schicksal noch für mich bereithalten mag. Und«, fügte er hinzu und hob sein Glas, »hätten Sie, mein lieber Watson, mich nicht gegen meinen Willen hierhergeschleppt, dann hätte Dr. Freud nie die Gelegenheit gehabt, einen hoffnungslosen Süchtigen zu heilen. Es ist schon so, ich schulde Ihnen beiden mein Leben. Was Watson angeht, so werde ich Zeit genug haben, ihm die Schuld zurückzuzahlen, aber wie kann ich Ihnen, Doktor, meinen Dank erweisen? Wenn meine Voraussagen zutreffen, dann sehen wir einander das letzte Mal für geraume Zeit, vielleicht für immer. Was kann ich tun?«
Sigmund Freud gab nicht sogleich eine Antwort. Er hatte auf seine unnachahmliche Art gelächelt, während Holmes sprach. Jetzt streifte er die Asche von der Zigarre und sah meinen Freund fest an.
»Lassen Sie mir eine Minute, um es zu überdenken«, bat er.
Unsere Reisetaschen waren gepackt; der Fall war abgeschlossen. Der Baron war tot, und ich würde bald in London bei meiner Frau sein. Die falsche Baronin von Leinsdorf war – wie Holmes vermutet hatte – eine amerikanische Schauspielerin gewesen, die nach der Heimkehr ihrer Truppe in Europa geblieben war. Ihr richtiger Name war Diana Marlowe, und sie war während eines Gastspiels in Berlin von dem jungen Baron verführt worden. Man ließ sie frei, nachdem sie eine Aussage unterzeichnet hatte, die einem Geständnis gleichkam (und in der sie die gesetzwidrige Affäre zugab). Außerdem hatte sie ihren Namen unter ein Dokument gesetzt, in dem sie schwor, alle Vorfälle, in die sie verwickelt gewesen war, und die Namen aller Beteiligten, eingeschlossen Sherlock Holmes’, zu verschweigen. Und es war ihr verboten, je wieder nach Österreich oder Deutschland zurückzukehren.
Die Polizeibehörden beider Länder wollten einen umfangreichen Skandal internationalen Ausmaßes vermeiden. Die Tatsachen waren schnell ans Licht gekommen; Berger und der verwundete Lokomotivführer gaben ihre eidlichen Aussagen ab und wurden, wie auch wir selbst, zu ewigem Schweigen verpflichtet. Auch dem energischen Wachtmeister der Wiener Schutzpolizei und seinen Leuten wurde eine solche Schweigepflicht auferlegt, obwohl es eigentlich allen Beteiligten klar war, daß sie gar keine andere Wahl hatten, als Stillschweigen zu bewahren. Die Täter in diesem üblen Unternehmen hatten ihr verdientes Ende gefunden, und da einige Zeit vergehen konnte, bevor die Baronin wieder sprach, hielten die Regierungen des österreichischen und des deutschen Kaiserreiches es offenbar unter den gegebenen Umständen für weise, ihre politischen Intrigen und Allianzen der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Übrigens erfuhr ich später, daß es nicht der alte Kaiser selbst, sondern sein ränkevoller Neffe, der Erzherzog Franz Ferdinand, war, der sich auf die Kabale mit dem Graf von Schlieffen, Baron von Leinsdorf und dem Kanzleramt in Berlin eingelassen hatte. Auf Umwegen bekam der Herzog Jahre später doch noch seinen Willen: Nach dem Attentat an ihm in Sarajewo stellte Deutschland Österreich seine Waffen zur Verfügung, und der darauffolgende Krieg kostete den Kaiser seinen Thron. Ich habe während jener dunklen Jahre, mit denen unser Jahrhundert begann, oft an das Bild gedacht, das Sigmund Freud – mit Hilfe seiner Theorie über den verkümmerten Arm – von diesem Mann gezeichnet hatte. Ob er zu den richtigen Schlüssen gekommen war, kann ich nicht sagen. Wie ich schon an früherer Stelle in dieser Erzählung festgehalten habe, waren wir in vielen Punkten ganz verschiedener Meinung.
Beim Packen hatten Holmes und ich natürlich die Möglichkeit diskutiert, unser Versprechen gegenüber diesen beiden unerquicklichen Mächten nicht einzuhalten und der Welt ihr skandalöses Verhalten zu enthüllen. Waren wir einmal zurück in England, konnte uns nichts davon abhalten; weder der gestohlene Zug, noch die Grenzverletzung oder der tote Butler konnten dort als Druckmittel verwendet werden, wie es
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