Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
pittoreske bayerische Landschaft durcheilten, standen die beiden Männer sich an den entgegengesetzten Enden des Wagens gegenüber. Sie schienen fast bewegungslos, wenn man von ihren Versuchen absah, auf dem Dach des schwankenden Wagens das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Eben das kostete Holmes einen Moment lang seinen Halt; er stolperte, und der Baron riß den Revolver herum und feuerte. Er hatte allerdings nicht mit dem plötzlichen Rucken gerechnet, das auch Holmes hatte abrutschen lassen. Er war so heftig hin und her geschüttelt, während er zielte, daß der Schuß weit daneben ging. Er versuchte es wieder, als Holmes sich aufrichtete, aber sein Revolver schnappte nur. Entweder waren keine Kugeln mehr darin, oder er hatte eine Ladehemmung. Wütend schleuderte der Baron ihn beiseite. Automatisch hob Holmes seine Waffe und zielte.
Aber er gab keinen Schuß ab.
»Holmes! Schießen Sie doch! Schießen Sie!« schrien wir.
Er schien uns nicht zu hören, noch achtete er auf unsere Warnrufe, als ein Tunnel hinter ihm auftauchte. Der Baron wich keinen Zentimeter zurück, während der Tod in Form eines steinernen Bogens nur wenige Schritte von dem Detektiv entfernt war.
Ironischerweise war es der Baron, der ihn rettete. Als er den Tunnel sah, verlor er die Nerven und warf sich flach auf den Wagen. Holmes erkannte sogleich den Grund dieses Manövers und tat dasselbe, wobei ihm der Revolver aus der Hand flog.
Dieser zweite Tunnel schien kein Ende zu nehmen. Was ging dort oben vor? Wand der Schurke sich jetzt im Schutz der Dunkelheit auf dem Dach entlang, um meinen Freund zu erdolchen? Solche Momente können einen in den Wahnsinn treiben.
Als wir wieder ans Tageslicht kamen, sahen wir die beiden Gegner vorsichtig balancierend aufeinander zugehen, die Säbel in den Händen.
Im nächsten Augenblick hatte der Kampf begonnen, und die Säbel kreuzten sich und blitzten in dem klaren Sonnenlicht. Hin und her fuhren die Waffen, während die Duellanten darum rangen, den Halt nicht zu verlieren. Beide waren keine Amateure. Der junge Baron hatte sich in Heidelberg geschlagen – und hatte zum Beweis seine hübsche Narbe vorzuzeigen –, und Holmes war ein vorzüglicher Stockfechter und ein Meister im Fechten. Ich hatte ihn jedoch nie zuvor einen Säbel handhaben sehen, war aber auch noch nie Zeuge eines Duells auf so gefährlichem Terrain geworden.
Die Wahrheitsliebe zwingt mich zu gestehen, daß der Baron Holmes mit dem Säbel überlegen war. Er drängte ihn allmählich und unbarmherzig rückwärts auf das Ende des Wagens zu. Seine satanischen Züge verzogen sich in grinsender Vorfreude, als er seinen Vorteil erkannte.
»Näher heran!« brüllte ich Berger zu, und er beschleunigte – nicht eine Sekunde zu früh. Wir rammten erneut den Zug des Barons, gerade als Holmes einen Schritt zurücktrat. Hätten die Wagen sich nicht berührt, dann wäre es ein Schritt ins Nichts gewesen.
Der Baron verfolgte ihn mit der Beweglichkeit und Grazie eines Jaguars, noch bevor Berger Zeit hatte, uns durch Verlangsamen der Fahrt ein weiteres Mal von dem Wagen zu trennen. Wieder stolperte Holmes, und sein Gegner stürzte sich auf ihn, ohne eine Sekunde zu verlieren. Der Detektiv rollte zur Seite, um dem Stoß zu entgehen, aber der Säbel des Barons hatte getroffen, und ich sah Blut aus dem Arm seines Opfers fließen.
Und dann war es vorbei. Wie es geschah oder was genau vor sich ging, habe ich nie herausbekommen. Holmes selbst konnte sich nicht erinnern, aber es scheint, daß der Baron seine Waffe zurückzog, um ein zweites Mal zuzustechen, dabei ausglitt und sich auf Holmes’ abwehrend erhobenem Säbel aufspießte.
Der Baron fuhr mit solcher Gewalt zurück, daß der Säbelgriff der Hand meines Freundes entglitt; aber der Schurke hatte sich so wild darauf gestürzt, daß er sich die Waffe nicht aus dem Leib ziehen konnte. Einen Moment lang stand er auf dem Wagendach, schwankend, sein böses Gesicht war vor Entsetzen erstarrt. Schließlich stürzte er mit einem grauenvollen Schrei – ich höre ihn manchmal in meinen Träumen – in die Tiefe. Holmes blieb noch einige Zeit auf den Knien, hielt seinen Arm und bemühte sich, nicht vom Dach des Waggons herunterzurollen. Dann blickte er um sich und sah uns an.
Freud und ich kletterten so schnell wie möglich aus der Lokomotive zu ihm. Wir bekamen ihn zu fassen und brachten ihn vorsichtig über die Leiter am anderen Ende nach unten. Freud wollte die Wunde untersuchen, aber Holmes
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