Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic (German Edition)
»aber ich will es versuchen.«
Mycroft Holmes unterbrach seinen Freund: »Ich werde Sherlock davon berichten. Bruce nahm selbst an der verhängnisvollen ersten Fahrt der Titanic teil. Er wurde gegen seinen Willen in ein Rettungsboot geworfen und überlebte.«
»Während ringsum Menschen um ihr Leben kämpften und viele diesen Kampf verloren«, ergänzte der Mann beinahe unhörbar.
»Bruce Ismay, der während der Fahrt nach New York an Bord der RMS Carpathia von einem Arzt mit Opium beruhigt werden musste, ist seither ein geschlagener Mann, obwohl er in peinlichen Untersuchungen vor amerikanischen und britischen Behörden seine Unschuld nachweisen konnte.«
»Mit Ausnahme der Schuld, überlebt zu haben, während Hunderte andere im Eiswasser umkamen«, wandte der Mann ein. »Ich höre die Schreie der Ertrinkenden, sobald ich mich zum Schlafen lege. Ohne Betäubung finde ich keine Ruhe mehr.«
»Und nun die neuerlichen, unerhörten Anschuldigungen der Journalisten«, ergänzte Mycroft Holmes.
»Einer von ihnen musste sein Leben lassen. Der Mann wurde erschossen«, stellte Sherlock Holmes fest.
»Was die Sache nur noch schwieriger macht«, sagte Bruce Ismay. »Man verdächtigt mich, auch daran Schuld zu tragen. Ich bitte Sie, Mr. Holmes, um alles in der Welt, befreien Sie mich von den Anschuldigungen. Ich werde Sie sehr gut bezahlen.«
»Ich werde alles unternehmen, Licht in das Dunkel zu bringen. Ich muss Sie aber warnen, Mr. Ismay. Sollte ich unehrenhaftes Verhalten auf Ihrer Seite oder auf der Seite Ihrer amerikanischen Geschäftspartner entdecken, werde ich meine Erkenntnisse keinesfalls verschweigen und sie den Behörden übermitteln.«
»Das ist ganz in meinem Sinn, Mr. Holmes«, bekräftigte der Reeder. »Damit Sie sehen, wie ernst es mir ist, werde ich Ihnen eine bedeutende Anzahlung zukommen lassen.«
»Gut. Das erleichtert die Ermittlungen«, sagte Holmes und fügte hinzu: »Als Erstes werde ich die Artikel über den angeblichen Versicherungsschwindel lesen. Sie können mir doch die Zeitungsausschnitte zur Verfügung stellen, Mr. Ismay?«
»Sehr ungern. Dieses elende Geschmiere ist wie Leichengift. Es breitet sich immer weiter aus und macht das Leben zur Hölle.«
»Ich muss darauf bestehen.«
»Ich werde Ihnen die Artikel noch heute zukommen lassen, Mr. Holmes. Es ist mir bewusst, dass ich nicht wehleidig sein darf, wenn ich je aus diesem dunklen Tal herauskommen will.«
»Eine letzte Frage für heute«, wandte sich Holmes erneut an sein Gegenüber. »Wo hielt sich Ihr amerikanischer Geschäftspartner auf, als das Schiff sank?«
»J. P. wollte auch an der Jungfernfahrt teilnehmen, aber er erkrankte. Ich war schon an Bord, als ich die Nachricht erhielt, dass er verhindert war.«
Das verschnürte Paket, das ein Kutscher am späten Nachmittag bei Mrs. Hudson abgab, blieb den ganzen Abend über und auch am nächsten Vormittag unberührt.
Holmes hatte sich mit seiner Stradivari in das Schlafzimmer zurückgezogen, wo er sich in Phantasiekompositionen verlor.
Alamac Hotel
Atlantic City, New Jersey
Vereinigte Staaten von Amerika
Der Tote bot selbst für den erfahrenen Arzt Jerry Brookman einen so makabren Anblick, dass er erst durchatmen musste, bevor er ihn untersuchte. Der Mann war im Stehen gestorben, angelehnt an einen Wäscheschrank von etwa derselben Höhe wie er. Sein Kopf, den er gegen die Ablagefläche des Möbelstücks gelehnt hatte, war die Stütze, die den Rest des Körpers aufrecht hielt. Er trug ein weites, langes Nachthemd und stand mit nackten Füßen auf dem Teppich.
Zunächst schloss der Doktor die vor Überraschung oder Entsetzen weit geöffneten Augen des Mannes. Sie waren von einem schmutzig-milchigen Grau wie der Atlantik, der an diesem Mittwoch, von kalten Winden aufgewühlt, gegen den Strand tobte, dann zog er den bereits steif gewordenen Körper nach vorne, bis sich die Verankerung zwischen dem Genick des Mannes und dem Schrank löste und der Tote auf den Boden fiel.
Mit einer Schere öffnete der Arzt das Nachthemd des kräftig wirkenden Mannes, den er auf Mitte fünfzig schätzte. Der Körper wies keine Spuren einer Gewalteinwirkung auf. Womöglich handelte es sich um Selbstmord oder die Überdosierung eines Medikaments, denn auf dem Wäscheschrank standen eine braune Flasche mit Paraldehyd , einem sehr wirkungsvollen Schlafmittel, und ein Likörglas.
Doch es gab keinen Abschiedsbrief und das Fläschchen war randvoll, als ob ihm noch nichts entnommen worden sei.
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