Sherlock Holmes und Old Shatterhand (German Edition)
eine Stunde, bis Max mit geschlossenen Augen dem Nachhall des letzten Akkords lauschte. Als Bentingham applaudierte, fielen Sir Mycroft, Holmes und ich ein. Max deutete eine knappe Verbeugung an. Nun trat Holmes, der seine Geige ausgepackt hatte, neben den Flügel und prüfte kurz die Stimmung seines Instruments. Dann hob er den Bogen und begann selbst zu spielen.
Max blickte lächelnd zu Holmes auf. Dann nickte er und fing ohne zu zögern an, eine Begleitung zu improvisieren. Holmes spielte eines seiner Lieblingsstücke, das Violinkonzert in g-Moll des Deutschen Max Bruch. 4 Es war eine beeindruckende Darbietung, bei der mir manchmal fast die Tränen kamen. Als der letzte Ton und der letzte Akkord verklungen waren, setzte Holmes die Geige ab und schüttelte Max kräftig die Hand.
» Flisni shqip ?« 5 , fragte er unvermittelt.
Damit schien er Max völlig überrumpelt zu haben. » Da! U në foli shqip« 6 , antwortete der spontan, schlug sich dann aber auf den Mund, schrie und stampfte mit dem Fuß auf.
»Was haben Sie zu ihm gesagt, Sie Unglücksmensch?«, rief Sir Hillary aufspringend aus. Holmes winkte ab zum Zeichen, dass er bleiben solle, wo er war, und sprach einfach weiter.
» Gjergj Frashëri? Da? Gjergj Frashëri? I qetë. Frajer. Frajer ! Ich bin ein Freund, George. Seien Sie ganz ruhig. Niemand tut Ihnen etwas. Unë quhem Sherlock Holmes. A ai është Doktor Watson. Edhe frajer ! 7 George!«
»Was reden Sie denn da für eine Sprache, Holmes, zum Don ...?«
»Jetzt warten Sie doch ab, Bentingham, zum Kuckuck!«, fuhr Mycroft dazwischen. »Sherlock weiß schon, was er tut!«
Bentingham verstummte sofort, kniff aber böse die Lippen zusammen. Mycroft Holmes schien hier weisungsbefugt zu sein. Den fragenden Blick der Schwester beantwortete Sir Hillary mit einem verärgerten Kopfschütteln.
» Kanun ? Besë ?« 8 , fragte Holmes weiter.
Max begann zu weinen und fiel Holmes um den Hals. » Da, Kanun, Besë !«
»Ich glaube, wir können die Posse jetzt aufgeben, George!«
Max nickte schluchzend. »Was bleibt mir übrig?« Sein Englisch war fließend und fast akzentfrei.
»Dann denke ich, sollten wir Sir Hillary, Sir Mycroft und meinen Freund Dr. Watson jetzt aufklären. Glauben Sie mir, hier droht Ihnen keine Gefahr mehr, und wir werden eine Lösung für Ihr Problem finden. Meine Herren, darf ich Ihnen Gjergj Frashëri vorstellen? Oder George, wie ihn alle nannten? Ein Skipetar, ein Albaner. Und einer der jüngsten Musiker, die je das Trinity College of Music absolvierten. 1893, nicht wahr? Ich hatte seinerzeit das Vergnügen, ihn bei seinem Abschlusskonzert zu erleben. Tschaikowskis Klavierkonzert Nr. 1 b-moll. Hier!«
Er zog einige Blätter aus der Tasche. »Aus meinem privaten Musiklexikon. Der Programmzettel und eine Besprechung. Der Kritiker überschlug sich damals förmlich vor Begeisterung. Leider kehrte Gjergj Frashëri danach in seine Heimat zurück und schien verstummt zu sein. Erst kürzlich stieß ich in der in Belgien erscheinenden Zeitschrift Albania wieder auf seinen Namen. Welch glücklicher Zufall, dass sich schon so kurz nach meiner Lektüre unsere Wege wieder kreuzen. Anhand von Sir Hillarys kunstfertigem Porträt erkannte ich ihn trotz des Bartes sofort wieder.«
»Genial!«, entfuhr es Bentingham.
»Sir Hillary«, fuhr Holmes fort, »was halten Sie davon, wenn wir uns in Ihre Privaträume zurückzögen? Ich denke, eine weniger offizielle Atmosphäre wäre unserer Sache dienlich.«
Bentingham hatte keine Einwände. Wenig später saßen wir gemütlich in seinem Wohnzimmer vor dem Kaminfeuer bei einem Glas Cognac. Über dem Kamin hing ein Gemälde, das er bereits als Student geschaffen hatte. Es stellte Dostojewskis Helden Rodion Raskolnikow aus dem Roman Verbrechen und Strafe dar. Schon damals war mir beim Anblick von Raskolnikows irren Augen jedes Mal ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen. Ein kleines Meisterwerk, das ebenso Aufschluss über den Charakter von Dostojewskis Helden gab wie über den des Künstlers.
»Also, meine Herren«, begann Holmes, »der Fall ist ganz einfach, wenngleich ich zugeben muss, dass mir Fortuna bei seiner Lösung sehr zur Hilfe kam. Ich habe George gleich wiedererkannt. Was aber war mit ihm geschehen? Seine Uniform gab einen ersten Hinweis. Die unterschiedlichen Farben von Hose und Rock gibt es bei den Offizieren der italienischen und der österreichisch-ungarischen Marine. Bei den britischen Marineoffizieren sind die Uniformröcke
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