Shevchenko, A.K.
wach: scherzende Studenten, Gelächter, ihre beharrliche Gastfreundschaft
und ihr noch beharrlicherer Husten. Ihre Wohnung galt quasi als »Erweiterung
des historischen Seminars«. Schließlich war die Vergangenheit ihrer Familie
tatsächlich ein wesentlicher Bestandteil der Historie - Evakuierung, Stalins
Lager, Samisdat- Flugblätter von Dissidenten.
Eine andere scherzhafte Bezeichnung für ihre Wohnung war
»Saras Suppenküche«. Es ist Taras bis heute ein Rätsel geblieben, wie sie es
damals schaffte, von ihrer mageren Pension all die hungrigen Studentenmäuler zu
stopfen. Vielleicht war ja an den Gerüchten, dass sie Dollars von Radio Free
Europe erhielt, weil ihr Mann als Dissident verehrt wurde, doch etwas dran. Wie
hatte ihr Mann noch mal mit Vornamen geheißen? Wassil ... Ja, Wassil Iwanowitsch.
Taras darf nicht vergessen, ihr seine Anteilnahme auszusprechen. Vor ein paar
Monaten hat er den Nachruf gelesen, eine Viertelseite in der überregionalen
Zeitung. Taras klingelt weiter, bis sie schließlich doch öffnet.
»Sara Samoilowna, sdrawstwujte!«, begrüßt er
sie auf Russisch. Sie ist in Moskau aufgewachsen und spricht immer noch lieber
Russisch als Ukrainisch.
»Tarasik!« Sie erkennt ihn auf Anhieb. »Läutest du schon
lange? Wenn ich in der Küche bin, höre ich die Klingel nicht immer. Meine
Tochter hat sie uns zur goldenen Hochzeit geschenkt. Jetzt, da mein Mann tot
ist, mein Leben tot ist, kommt es oft vor, dass ich gar nicht auf das Klingeln
achte.«
»Nächste Woche ist der Internationale Frauentag, deshalb
...« Taras drückt ihr den Blumenstrauß in die Hand. Er kann sich nicht erinnern,
wann er einer Frau das letzte Mal Blumen geschenkt hat. Anscheinend freut sie
sich darüber. Auf jeden Fall freut sie sich, ihn zu sehen.
Sie ist der aufrichtigste Mensch, dem er je begegnet ist, im Zorn wie in der
Güte. Er hat beides erlebt. Ein Lächeln überzieht ihre feinen Züge mit einem
Gespinst aus feinen Fältchen. Sie ist zierlich, kleiner, als er sie in
Erinnerung hatte, dünnes Haar, Vogelaugen. Selbst in diesem formlosen
Flanellkleid besitzt sie noch die fragile Schönheit einer späten Rose im
Oktober: verblasste Blütenblätter, einsamer Glanz.
Sie tanzt aufgeregt um ihn herum, will ihm den Mantel
abnehmen, bietet ihm abgewetzte Filzpantoffeln an, die früher einmal grün
gewesen sind, und Taras merkt, dass sie erst wieder zu Atem kommen muss.
Offensichtlich hat sie ein wenig nachgelassen. Wahrscheinlich musste sie sich
erst mühsam aufraffen, um zur Tür zu gehen.
Er folgt ihr ins Arbeitszimmer. Während sie vor ihm
herschlurft, bleibt er kurz stehen und wirft einen Blick in den Flurspiegel.
Sein Baumwoll-Sweatshirt wirkt lässig, aber nicht billig. Sein Brillengestell
kommt aus Deutschland, gut gemacht, dünner Rahmen in Silber metallic -
hoffentlich bemerkt sie es. Er wünscht sich, dass sie ihn endlich bewundert.
Dass sie sagt: »Oh, Tarasik, du siehst blendend aus! Vorbei die Zeiten, als ich
dich unseren armen Verwandten nannte!«
Das Apartment wirkt, als wolle sie umziehen - die Teppiche
sind zur Wand gerollt, überall leere Regale, überall Bücher; Bücher, wo man
hinsieht: staubige Buchstapel auf den Sesseln, Lederbände auf dem altmodischen
roten Sofa. Durch die offene Schlafzimmertür sieht er noch einen Bücherstapel
auf dem Boden, neben dem Fünfziger-Jahre-Bett, das auf Aluminium-Kegelfüßen
steht. Sara Samoilowna, die seine Gedanken liest, entschuldigt sich: »Bitte
sieh über das Chaos hinweg. Du weißt ja vermutlich, dass mein Mann dieses Jahr
gestorben ist, und wir versuchen gerade, seine Bibliothek auszusortieren. Wir
wollen viele Bücher an die Universität verschenken.« Ihr »wir« klingt
konspirativ, als spreche sie über jeden einzelnen Titel immer noch mit ihrem
verstorbenen Mann. »Diese Sortiererei nimmt jetzt den größten Teil meiner Zeit
in Anspruch.«
Sie atmet die Trauer aus, lenkt sich durch körperliche
Anstrengung ab, indem sie den Bücherstapel vom Sofa hebt und für Taras Platz
schafft, bevor er ihr zu Hilfe kommen kann. Sie gluckst: »Setz du dich,
Tarasik, ich stell mich neben dich. Ich hab in meinem Leben schon genug
gesessen.« Er hat diesen Scherz schon viele Male gehört. Nach dem Krieg hatte
man sie als Frau eines Volksfeinds verhaftet, sieben Jahre lang gefangen
gehalten und erst nach Stalins Tod rehabilitiert. Ihren hartnäckigen Husten hat
sie sich damals in einer feuchten Zelle geholt. Seit er sie das letzte Mal
gesehen hat, ist sie noch
Weitere Kostenlose Bücher