Shevchenko, A.K.
erklären, wie das alles
passiert ist. Ich habe schon von Paaren gelesen, die beim Begräbnis eines
Verwandten miteinander schliefen oder während einer Choleraepidemie. Wenn einem
die Zukunft Angst macht und man durch Elend und Verzweiflung völlig erschöpft
ist, wenn Körper und Seele den Schmerz nicht mehr ertragen, dann wirkt die
Leidenschaft als äußerst starke Droge und schenkt uns einen Augenblick des
Vergessens. Jetzt kann ich das verstehen.
Ich erinnere mich an jede Berührung, jeden Kuss, kann mich
aber nicht mehr erinnern, wie ich einschlief. Als wir in der Morgendämmerung
erwachten, war der Zug abgefahren, samt all unseren Habseligkeiten und
Papieren. Sara und ich brauchten sechs Stunden zum Bahnhof zurück - und ich
hatte geglaubt, wir wären nur einen halben Kilometer weit weg! Ich hatte meinen
NKWD-Ausweis in der Tasche. Bis dahin hatte ich noch nie Gebrauch davon
gemacht, doch wie ich nun merkte, wirkt er wahre Wunder. Der unrasierte,
sorgengequälte Stationsvorsteher servierte uns Brot und grünen Tee und schaffte
es sogar noch, uns in den nächsten Evakuiertenzug nach Krasnodar zu quetschen.
Von dort bestiegen wir einen anderen Zug, der uns in die
usbekische Hauptstadt brachte.
Als wir uns beim Narkomat in Taschkent registrierten, eröffnete
man mir, dass unsere Koffer und persönlichen Dokumente verschwunden seien,
dass sich meine Kollegen um die Archivakten gekümmert hätten und die Akten alle
in Sicherheit seien. Major Alexandrow war sehr hilfreich. Es gelang ihm, mir
ein Zimmer und provisorische Papiere zu organisieren.
Sara glich einem ängstlichen, anschmiegsamen Vögelchen.
Sie ist noch ein Kind, vertraut ganz auf mich, vor allem jetzt. Ich könnte sie
unmöglich verlassen. Was täte sie ohne Pass, Kleidung und Geld, Tausende von
Kilometern von zu Hause entfernt? Als mich Major Alexandrow fragte: »Und wer
ist das?«, musste ich antworten: »Das ist meine Frau.« In ihren Augen lag keine
Überraschung, aber sie schwammen in Tränen. Tränen des Glücks oder der
Verzweiflung? Ich weiß es nicht. Ich werde nie wagen, sie danach zu fragen. Sie
bekam neue Papiere mit ihrem Ehenamen (meinem Namen!). Arme Sara - ich hatte
kaum Zeit, um sie zu werben, es gab keinen Heiratsantrag, keine Blumen, keine
Feier!
24. Oktober 1941
Heute ist mein Geburtstag. Werden die nächsten siebenundzwanzig
Jahre ebenso rasch verfliegen?
Jetzt bin ich also siebenundzwanzig Jahre alt und in ganz
unglaublichen Umständen: verheiratet mit einem achtzehnjährigen jüdischen
Mädchen, wohne ich auf der Glasveranda eines kleinen Taschkenter Hauses - in
dem fünf andere Familien sich vier weitere Räume teilen - und versuche, nicht
den Verstand zu verlieren! Aber keine Bange, der Krieg wird bald vorbei sein,
alles wird wieder normal, ich werde meine Dissertation fertigstellen und eine
richtige Familie haben.
Manchmal denke ich an Wera. Wie werde ich ihr nach dem
Krieg dann alles erklären ?
31. Dezember 1941
Heute ist Silvester, aber das Leben ist so schwer, dass es
unmöglich ist, in festliche Stimmung zu kommen. Bei einer Silvesterparty im
Archiv gab es für jeden von uns zwei Wurstbrote. Ein richtiges Festmahl, weil
wir seit unserem Aufbruch aus Moskau weder Wurst noch Butter mehr erhalten
haben.
In Taschkent herrscht dieses Jahr der kälteste Winter seit
Menschengedenken. Bei minus 40 Grad ist es auf unserer Sommerveranda trotz des
Stahlofens nicht besonders gemütlich! Niemand hat erwartet, dass der Krieg bis
zum Winter dauern würde, und die arme Sara hat nichts zum Anziehen. Sie ist
fest entschlossen, ihr Studium hier fortzusetzen, und besucht Vorlesungen an
der Universität Leningrad, die nach Taschkent evakuiert wurde.
Wenn ich ihr nachschaue, wie sie durch den Schnee stapft -
in meinen Socken, Sandalen und Pyjamahosen, die alte Hasenfelljacke unserer
Vermieterin um die mageren Schultern gelegt -, schnürt es mir vor Verzweiflung
und Zärtlichkeit die Kehle zu.
21. Januar 1942
Ich bin nicht nur ein verheirateter Mann, sondern werde
jetzt auch noch Vater!
Wie kann ich ein Kind großziehen, was versteh ich davon?
Nur das, was ich während der letzten sechs Monate gelernt habe, in denen ich
Sara großgezogen habe. Sie gibt sich wirklich Mühe, aber manchmal spürt man
ihren kindlichen Eigensinn. Heute auf dem Markt hab ich meine Brotkarten gegen
ein sehr gutes und nützliches Buch eingetauscht - Die Formung
des Charakters von Robert Owen. Die Zukunft meines Kindes ist es
wert, mal einen
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