Shevchenko, A.K.
ob sie von
Interesse für dich sind. In der Zwischenzeit mach ich uns einen Kaffee -
starken türkischen Kaffee, wie du ihn magst.« Mein Gott,
sogar daran erinnert sie sich noch! Er wendet sich um, weil er sich
bedanken will, doch Sara Samoilowna ist schon in die Küche verschwunden.
Wahrscheinlich ist dies zu schmerzlich für sie. Niemand hat sie je weinen
gesehen, und so soll es auch bleiben. Taras beginnt mit den Dreiecken. Faltet
eins davon vorsichtig auf - es ist so zerfranst, dass er fürchtet, es könnte
ihm zwischen den Fingern zerfallen, zu gelbem Staub zerbröseln. Er erkennt die
Handschrift, die er auch auf dem Rücken von Akte N1247 gesehen hat. Ein Brief
von der Front. Drei Zeilen, drei Lebenslinien - um ihr zu sagen, dass es ihn
noch gibt:
Wie geht es Dir, Liebste? Mir geht es gut.
Vermisse dich und denke an euch beide.
Bald werfen wir die Nazis raus, dann komm ich zu euch.
Konnte sie die Wahrheit lesen, die sich zwischen diesen
Zeilen verbarg? Eisige Schützengräben, ohrenbetäubende Detonationen, seine
Angst vor dem Angriff? Taras braucht ein paar Minuten, um den Brief wieder
zusammenzufalten. Er macht sich nicht die Mühe, den zweiten zu öffnen - es
werden die gleichen Worte sein. Er sucht nach etwas anderem.
Taras wendet sich dem Taschenbuch zu. Auf dem Cover sieht
man die schwarze Umrisszeichnung eines Mädchens - eine kniende, trauernde
Figur. Ein Datum am unteren Rand: 1942. Der Titel in verblasster roter Schrift: Tristan und Isolde. Er öffnet die erste Seite. Sein
Blick fällt auf eine Widmung mit blauer Tinte, eine Kette winziger spitzer
Buchstaben.
Sara, meine Liebste! Heute ist dein zwanzigster
Geburtstag. Ich wünschte, ich könnte dir in diesen schweren Zeiten etwas
Schöneres schenken. Zumindest handelt dieses Buch von der Liebe. Ich hoffe,
dass sie in dieser unglücklichen Welt zu unserem Leitstern werden kann. Ich
kann dir heute kein Gold und keine Diamanten schenken, aber ich weiß, dass
unsere Liebe nicht mit Gold aufzuwiegen ist.
Wie mag sie damals wohl ausgesehen haben?, überlegt Taras.
Er hat nie Fotos von ihr als junger Frau gesehen. Gelegentlich muss er sie
bitten, ihm welche zu zeigen. Aber nicht heute. Das nächste Mal, falls es ein
nächstes Mal gibt.
Er greift nach dem dicken Notizbuch mit dem
Wachstucheinband und schlägt es auf. Die Handschrift ähnelt einem dünnen Draht,
der sich in den hellblauen Kästchen eines Mathematikbuchs verfangen hat. Im
Archiv hat er Übung darin erlangt, selbst unleserlichstes Gekritzel zu
entziffern, und nach ein paar Minuten kann er das Tagebuch problemlos lesen,
kehrt höchstens hin und wieder mal zu einem ungewohnten Wort zurück.
18. September 1941
Gratulation - ich bin ein verheirateter Mann! Ich hätte
mir nie träumen klassen, dass es auf diese Weise dazu
kommen würde. Da unsere Stadt so nah an der westlichen Grenze liegt, war es
wichtig, das Archiv rasch zu evakuieren - deshalb die Hektik mit dem Packen und
Reisen. Man kam zu dem Schluss, dass Zentralasien nicht nur sicher wäre,
sondern noch dazu im Winter warm. Wir wollten nach Taschkent, der Hauptstadt
von Usbekistan. Der Zug kroch dahin, stand manchmal stundenlang, wenn er
schwere Einheiten durchlassen musste, die nach Westen fuhren. Wir waren
vierzig Leute in einem Güterwaggon, alle Kollegen aus dem Archiv. Nachdem wir
eine Woche lang unterwegs gewesen waren, hielt unser Zug in der Nähe eines
Bahnhofs an, mitten in der Steppe. Um endlich dem abgestandenen Geruch des
Strohs zu entrinnen, schoben wir die Tür auf und hörten plötzlich das Zirpen
der Grillen, sahen die riesige rote Scheibe der Abendsonne, waren mitten in
der Vorkriegswelt gelandet. Wie hätte ich da einem Spaziergang widerstehen
können? Sara folgte mir bis tief ins Kornfeld, betrachtete mit zusammengekniffenen
Augen den Sonnenuntergang. Sie war ins Archiv gekommen, um während ihrer
Sommerferien dort zu arbeiten, einen Monat vor der Evakuierung. Sie hat verträumte
Haselnussaugen und straffgeflochtene schwarze Zöpfe. Sie hat etwas
Zerbrechliches, etwas aus einem anderen Zeitalter und einer anderen Welt, der
Welt von Tschechow und Turgenjew, wo Mädchen in langen weißen Kleidern unter
spitzenbesetzten Sonnenschirmchen durch die Gärten schlendern.
Ich habe gerade noch mal meine Notizen gelesen. Ich kann
es gar nicht fassen, dass ich, der Leiter des NKWD-Archivs, schon vor drei
Monaten so gedacht und geschrieben habe! Bin ich tatsächlich verliebt?
Ich kann mir immer noch nicht
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