Shevchenko, A.K.
Bemühungen zufrieden. »Wer ist Wera?« Seine
Frage klingt zu barsch. Sara Samoilowna errötet, und in die verblassten
Blütenblätter strömt Farbe. Ihr Lächeln wirkt ein klein wenig kokett. »Wera war
ein Mädchen, das mein Mann vor dem Krieg heiraten wollte. Sie haben zusammen
studiert, und dann wurde mein Mann zur Arbeit ins Archiv geschickt, während sie
in Moskau blieb. Erstaunlicherweise hat sich zwischen uns nach dem Krieg eine
enge Freundschaft entwickelt und ...«
Aber Taras hört ihr gar nicht zu. Er liest die letzte
Seite des Tagebuchs:
17. November 1942
Soeben habe ich herausgefunden, dass es einen Plan gibt,
nach dem Krieg alle regionalen Archive zu zentralisieren und nach Moskau zu
verlegen. Ich musste rasch eine Entscheidung treffen. Was ich jetzt tue, mag
falsch erscheinen, aber nur bei kurzfristiger Betrachtung. Ich muss es tun -
nicht für mich, sondern für die Generation meiner Kinder oder sogar Enkel, für
die Zeit, in der mein Vaterland einmal frei und unabhängig sein wird.
Sara Samoilowna beugt sich über Taras' Schulter. »Das war
der letzte Tagebucheintrag meines Mannes, zwei Tage bevor er an die Front ging.
Er war so traurig, dass er sein Töchterchen verlassen musste. Für mich war es
schwer, in Taschkent zu bleiben, aber für ihn war es noch viel schwerer, uns zu
verlassen.«
»Wirklich sehr interessant,
Sara Samoilowna!« Taras hustet, um seine Aufregung zu verbergen. Er versucht
sich ihre Reaktion vorzustellen, wenn er ihr sagen würde: »O nein, Sara
Samoilowna! Dieser Tagebucheintrag hat nichts mit Ihnen und Natascha zu tun. Er
hat mit den Dokumenten zu tun, die Ihr Mann im November 1942 der NKWD-Akte N
1247 entnommen hat. Ich habe seine Signatur in der Akte gesehen - er hat
während des Kriegs daran gearbeitet ...«
Doch das behält Taras für sich. Er muss sie jetzt fragen, ob
dem Tagebuch noch andere Papiere beilagen. Er wird es sanft aus ihr
herauslocken. Kein Druck: erst die allgemeine Information, dann Wiederholung
der Frage und weitere Details.
»Wie haben Sie es denn geschafft, das Tagebuch so viele
Jahre lang aufzubewahren?«, beginnt er vorsichtig.
»Oh, mein Mann hat es versteckt.« Sie gehört nicht zu den
Leuten, die sich mit fremden Lorbeeren schmücken. »Wir haben das Tagebuch erst
nach seinem Tod gefunden. Als wir die Bücher für die Universitätsbibliothek
aussortierten, fanden wir das Tagebuch hinter den Bänden der Geschichte
ukrainischer Städte auf dem zweiten Regal, zusammen
mit ein paar Papieren. Ich habe das Tagebuch mehrfach kopiert, die Lektüre ist
so fesselnd. Wenn du also eins für den Gedenkraum haben möchtest ...«
»Das wäre phantastisch!«, sagt Taras. Eine Kopie des
Tagebuchs wäre nützlich - als Beweis. Allerdings nicht so nützlich wie die 1942
gestohlenen Papiere. Sieben Seiten - mehr braucht er nicht. Vier davon sind
vermutlich handgeschrieben; drei sind auf der altmodischen Schreibmaschine
getippt, und die Vokale A und O springen ein bisschen über die Zeile. Sieben
Seiten, die ein Land niemals verzeihen und ein anderes niemals vergessen wird.
Ihr Mann war sehr tapfer, Sara Samoilowna, denkt Taras. Mit einem solchen
Geheimnis zu leben erfordert viel Mut. Sein Blick fällt auf das Foto ihres
Enkels auf dem Regal - vertrautes Lächeln, vertraute Sommersprossen. Sarah
folgt seinem Blick. »Er studiert jetzt im Ausland. Wir sind so stolz auf ihn!«
Gerade als Taras tief Luft holt, um Sara nach den »Papieren« zu fragen, die sie
beim Tagebuch gefunden hat, gibt sie ihm die Antwort selbst.
Er runzelt einen Moment die Stirn und dreht sich weg,
starrt durchs Fenster zur anderen Straßenseite hinüber, auf das Gerüst am
Nachbarhaus. Die Montagegondel dort schwingt im Wind hin und her wie ein
Pendel, wie seine Empfindungen, nachdem er Saras Worte gehört hat. Er sieht sie
nicht an, macht keine Bemerkung. Sara Samoilowna spricht weiter - entzückt,
aufgeregt, stolz -, bis er es nicht mehr aushält.
Taras steht rasch auf und flüstert laut, heiser, in ihren
schütteren grauen Schopf hinein. Um sechs Uhr gehe sein Flug, und er müsse noch
andere Freunde besuchen. Ihr Kaffee sei wunderbar, und sie habe einen
großartigen Beitrag für den Gedenkraum beigesteuert. Er schafft es, zum
Abschied zu lächeln, und als er geht, hält er die Kopie des Tagebuchs so fest
umklammert, dass seine Knöchel weiß hervortreten. Er sieht sie immer noch im
Türrahmen lehnen, bemüht, mit ihrem strahlend jungen Lächeln ihre Enttäuschung
zu
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