Shevchenko, A.K.
überspielen. Sie habe gehofft, er werde länger bleiben. Sie habe doch extra
sein Lieblingsgericht gekocht, Borschtsch mit Pilzen und Knoblauch, kein
Fleisch, und ...
Wahrscheinlich hat sie den ganzen Vormittag dafür
gebraucht, denkt Taras. Egal. Abschiede war sie inzwischen wohl gewohnt.
Die schneebedeckten Gassen des Strijski Parks liegen fünf
Minuten von der Kopfsteinpflasterstraße entfernt, in der Sara wohnt. Fast
joggend eilt er den Hügel hinauf, lässt unten am Weg atemlose Horden von
Touristen hinter sich. Es herrschen klirrender Frost und gleißender
Sonnenschein, und von hier oben kann er die Altstadt sehen. Nicht mehr das
aristokratische Flair, an das er sich erinnert: der mittelalterliche Marktplatz
mit dem armenischen Eckcafe, türkischer Kaffee, auf heißem Sand gekocht,
Künstler in den Höfen, Residenzen mit reichverziertem Stuck in der Nähe des
Lytschakiwske-Friedhofs. Trambahnen wühlen sich durch dunkel wimmelnde
Menschenmengen, und an jeder Ecke stehen hässliche Sperrholzbuden. Er ist
allein hier auf dem Hügel, hoch über dem hektischen Chaos.
Taras beugt sich vor, um den Schnee - und seine Gedanken -
in drei exakte Häufchen zu ordnen.
Erstes Häufchen: Zumindest weiß er, dass die Dokumente
zusammen mit dem Tagebuch gefunden wurden. Seine Analyse war korrekt - er
wusste, dass er hier ansetzen musste. Er hat herausgefunden, wo die Dokumente
momentan sind, und dies ermöglicht ihm eine konzentriertere, gezieltere Suche.
Zweites Häufchen: Er muss nach England. Dringend. Sofort.
Nicht ganz leicht, aber auch nicht unmöglich.
Drittes Häufchen: Er muss seinen Chef informieren und um
Hilfe bitten. Karpow hat phantastische Kontakte, er kann alle Genehmigungsscheine
organisieren. Taras hat mehr Argumente als nötig, er muss nur die richtigen
davon auswählen. Behutsam. In gewisser Hinsicht war es hilfreich - Sara
Samoilowna hat seinen Verdacht bestätigt, hat ihm geholfen, die Optionen
einzugrenzen. Und doch kann er ihr das, was sie ihm gesagt hat, nicht
verzeihen. Er kann ihr nicht verzeihen, was er nun tun muss. Was er ihr nun
antun wird.
3
Moskau, März 2001
Die Stille wird allmählich peinlich. Taras muss das Eis
jetzt rasch brechen, solange es sich noch um eine dünne Schicht ersten Bodenfrosts
handelt. Ein unvorsichtiges Wort, ein falscher
Zug kann alles verderben. Er hat dieses Gespräch x-mal in Gedanken durchgespielt,
hat einmal beim Waschen sogar den passenden Gesichtsausdruck im Spiegel geübt,
die Zeit gestoppt. (Wenn Sie Ihren Fall nicht in
sieben Minuten darlegen können, hat sich die Sache erledig. - Ein
weiteres Zitat von Surikow, seinem Dozenten an der Akademie.) Er hat den Ort
sorgfältig ausgewählt. In der Kantine im Untergeschoss fühlt man sich wie in
einem Klosterkeller. Der Klangteppich aus murmelndem Smalltalk und dem Klappern
der Teller ist hier unten immer besonders dicht: Sein Chef versteht ihn über
das Geplauder und Geklapper hinweg, und in dieser ruhigen Ecke erweckt man
nicht unnötig Aufmerksamkeit. Taras hat jedes einzelne Wort betont, als zähle
er die Kernpunkte eines Referats auf. Die Notwendigkeit, nach Großbritannien zu
reisen, hat er nur so nebenbei erwähnt, fast beiläufig, neben anderen
wichtigen Schritten der Operation. Der Leiter der Archivabteilung hat
zugehört, ohne während dieser sieben Minuten ein einziges Mal von seinem
Teller aufzublicken.
Er hat keine Bemerkung gemacht, keine Frage gestellt.
Jetzt sitzen sie schweigend da. Taras schaut seinem Boss beim Essen zu. Die
Adern auf seinen von Kupferfinne geröteten Wangen bewegen sich langsam, im
Kaurhythmus. Wie er es wohl schafft, beim Geheimdienst zu bleiben, obwohl
schon zehn Jahre jüngere Leute in den Ruhestand abgeschoben werden?, fragt sich
Taras. Mit wem er wohl ab und zu was trinken geht und wie oft? Karpow zermalmt
den öligen, Vitamin-C-haltigen Krautsalat, kaut sorgfältig das fade Schnitzel.
Er runzelt die Stirn, als ob ihm das Essen - aufgrund einer Verbindung zwischen
Hirn und Magen - Kopfschmerzen bereite. Doch Taras kennt seinen Boss gut. Er
prüft, überlegt, wägt Pro und Kontra ab. Als er den letzten Schnitzelbissen
schluckt, akribisch die Semmelbrösel aufpickt und auf der Gabel balanciert, hat
er seine Entscheidung getroffen. »Sie sollten sonst niemandem davon erzählen,
Taras. Es würde nur weitschweifige Berichte erfordern und mindestens drei
Monate Wartezeit, bis die Sache genehmigt wird. Außerdem kann es leicht
passieren, dass die Berichte dann
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