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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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zum
Beispiel kann nur dann durch autorisiertes Personal geöffnet werden, wenn ihn
zwei Leute gemeinsam aufschließen. Diese Vorschrift gewährleistet eine
doppelte Kontrolle und verringert das Risiko, dass sich Unbefugte Zugang
verschaffen. Die Verabreichung der Medikamente erfolgt wieder durch zwei
Personen - eine Schwester und einen Sicherheitsbeamten. Der Beamte fordert den
Patienten auf, den Mund zu öffnen, und überprüft mit Hilfe eines Löffels
gründlich, ob auch alles hinuntergeschluckt wurde.
    Ab und zu hatten wir Probleme mit Gruppe-A-Patienten«,
gibt Swetlana zu. »Manche haben es trotzdem geschafft, die Medikamente unter
der Zunge zu verstecken und dann aus dem Fenster zu werfen, oder sie haben
Erbrechen herbeigeführt, sobald sie wieder auf Station waren. Zum Glück haben
wir heute kaum noch Gruppe-A-Patienten.«
    Taras denkt an den Schneeteppich aus weißen Pillen, der
unten im Hof unter den Schritten knirscht. Ihm liegt ein Scherz über die
schlampigen Reinigungskräfte auf der Zunge, doch er verkneift ihn sich:
Vielleicht sind hier doch mehr Gruppe-A-Patienten interniert, als Swetlana ihm
weismachen will.
    Eine halbe Stunde später sieht Taras die Schlange der
wartenden Menschen, die gehorsam den Mund aufsperren, um Vitamine und andere
aufbauende Medikamente zu schlucken, nur um später jene Drogen injiziert zu
bekommen, die sie langsam umbringen - und er begreift, warum man die
Sowjetunion in den siebziger Jahren aus der World Psychiatric Association
geworfen hat. Eine gebrechliche Gestalt in einem verblichenen Flanellkittel
stolpert auf den Medizinschrank zu. »Das ist Oxana«, sagt die Schwester,
»unsere älteste Patientin.« In ihrer Stimme schwingt Stolz mit. »Sie hat ein
sehr starkes Herz. Viele jüngere Patienten sterben hier, aber sie hält durch.«
    Na komm, Swetlana, so alt ist
sie doch gar nicht, denkt Taras und betrachtet die gebeugte, runzlige Gestalt
mit dem zerzausten, kurzgeschnittenen Haar. Sie sieht aus wie achtzig, aber er
weiß, dass sie erst achtundfünfzig ist.
    Oxana wendet sich an den Stabsfeldwebel, deutet mit ihrem
knorrigen, arthritischen Finger auf Taras und sagt: »Tak ...« Da der
Stabsfeldwebel sie ignoriert, wendet sie sich Taras zu. Er fühlt sich
unbehaglich - in ihren hellen blauen Augen scheint ein Zeichen des Erkennens
aufzuflackern, als sie ernst und mit Nachdruck wiederholt: »Tak ...«
    Taras wendet sich an Swetlana. »Was versucht sie uns zu
erklären?«, fragt er.
    »Ach, nicht viel«, erwidert die Krankenschwester. »Das ist
seit vielen Jahren das Einzige, was sie spricht.«
    »Gibt es jemanden, der sie besucht?«, erkundigt sich Taras
vorsichtig.
    »Niemanden, seit sie hier ist - und das war mein
Geburtsjahr«, Swetlana kichert und schaut ihm direkt in die Augen; und Taras
wird schlagartig klar, dass diese Aufgabe vielleicht eine Spur leichter zu
bewältigen sein wird als gedacht.
    Ursprünglich hatte er mit ein paar Tagen gerechnet, aber
er kann es genauso gut jetzt versuchen. Er muss schnell reagieren. Die Chance
dauert nur einen Augenblick. Er lächelt Swetlana an, erwidert ihren Blick,
reibt sein bandagiertes Handgelenk. »Zu viel Zeit im Fitnessstudio«, erklärt er
der Krankenschwester, »und was kommt dabei heraus? Ein verstauchtes
Handgelenk!« Er spürt die kleine Beule unter dem Verband. Eine winzige Pille,
die selbst einen Menschen mit starkem Herzen umbringen würde. Garantiert.
    »Vielleicht, Swetlana, hätten Sie eine ganz spezielle
Therapie für mich?« Sanft, aber mit festem Griff zieht Taras die Krankenschwester
an sich. Sie wendet sich errötend ab und steckt die Hand mit dem Ehering hastig
in die Tasche ihres weißen Kittels. In diesem Moment koketter Konfusion merkt
sie nicht, dass der junge Leutnant blitzschnell eine winzige weiße Pille zu den
anderen Pillen auf Oxanas Plastiktablett legt. Auch der Stabsfeldwebel, der
gerade jemandem in den Mund schaut, bemerkt es nicht. Taras lässt von der
Krankenschwester ab, steht einen Augenblick da und beobachtet, wie die
Patienten ihre Pillen nehmen.
    Seine Stimmung hebt sich mit jedem Schritt, der ihn vom
Kliniktor entfernt. Zwar hat er Swetlana versprochen, am nächsten Tag wiederzukommen,
um seine »Informationstour« fortzusetzen, aber morgen wird er dann im
Krankenhaus anrufen und mitteilen, dass er dringend in Moskau zurückerwartet
werde. Für den Pillentrick hätte er einen Magierpreis verdient. Mit noch
größerem Stolz erfüllt ihn der Gedanke, dass er Oxana vor weiterem Leid

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