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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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über den Schreibtisch, raucht Kette (wenigstens eine Angewohnheit,
die Taras schon vor Jahren aufgegeben hat) und bedeckt das Blatt mit der
wohlbekannten spitzen Handschrift.
     
    Bericht über das Verhör von Oxana Polubotok, geboren am 23.
03.1943.
     
    Kiew 18. März 1962
     
    Fazit und Beschluss
    Weiterhin überwachen Isolation empfehlenswert
    Überleben sicherstellen, falls Identität in Zukunft noch
benötigt wird.
     
    Darunter, unterstrichen, in Druckbuchstaben: PATIENTIN
GRUPPE B.
    Eine unscheinbare Unterschrift in der linken unteren Ecke,
mit dem finsteren, rasierklingenscharfen Zickzack am Schluss, den er so gut
kennt: Verhört durch: Karpow, Vernehmungsbeamter. Es hatte
nicht lange gedauert, bis Taras herausfand, in welche Klinik man Oxana Polubotok
gebracht hatte. Die RPB oder Republikanskaja
Psichiatritscheskaja bolniza spezialnogo nasnatschenija war die
drittgrößte psychiatrische Klinik der Sowjetunion - nach dem
Sklifosowski-Institut in Moskau und der psychiatrischen Abteilung im
Leningrader Kresty-Gefängnis. In dieser Klinik, im Zentrum der ukrainischen
Stadt Dnjepropetrowsk gelegen, waren tausend Patienten aus Moldawien, der
Ukraine, Weißrussland und dem Kaukasus untergebracht.
    Es war leicht, Oxana zu finden, aber in die Klinik zu
kommen war viel schwieriger. Die RPB-Klinik unterstand jetzt dem Nationalen
Sicherheitsdienst der Ukraine, der in Konkurrenz zum russischen FSB stand. Zum
Glück war Oberst Nikonenko, der glawratsch, der
momentan die Klinik leitete, auch auf der Akademie gewesen, einen Jahrgang über
Oberst Karpow. »Richten Sie dem Chefarzt meine besten Grüße aus, Taras«, hatte
Karpow in Moskau gesagt, als er ihm den Dienstreiseschein für Osnakomitelnaja
pojesdka überreichte, eine »Informationstour«.
    »Und nehmen Sie sich Zeit, machen Sie sich wirklich mit
der Klinik vertraut, lernen Sie das Personal kennen, beobachten Sie die
Patienten. Kein Grund zur Eile«, fügte er hinzu und legte Taras die Hand auf
die Schulter. Der Tonfall klang fürsorglich, fast väterlich, aber Karpows
Pranke, die schwer auf seiner Schulter lastete, ließ keinen Zweifel - es durfte
kein Fehler passieren. Taras kennt seinen Chef gut. Karpow macht sich nichts
aus Geld und hat auch keine Lust, einen internationalen Skandal auszulösen.
Auch Eitelkeit zählt nicht zu seinen Todsünden. Es ist nur einfach so, dass
diese endlose Geschichte sein geregeltes Leben aus dem Takt bringt. Ihm ist es
egal, ob die Geschichte, dieser Fall, ein glückliches oder tragisches Ende
nehmen wird; er muss ihn einfach abschließen.
    Das kann ihm Taras garantieren. Er weiß, was »Patientin
Gruppe B« bedeutet. Seine Seminararbeit an der Akademie trug das Thema Analyse
der Verbreitung regimekritischer Literatur und antisowjetischer Propaganda, und im
Rahmen seiner Recherche damals hatte er zahlreiche Formulare ausfüllen müssen,
um Zugang zu Informationen über politische Gefangene zu erhalten, um die man
sich in psychiatrischen Kliniken im ganzen Sowjetreich »kümmerte«. Allerdings
hatte er nie Gelegenheit gehabt, eine dieser Kliniken zu besuchen. Und er hätte
nie geglaubt, dass diese Gelegenheit sich eines Tages doch noch ergeben würde,
zehn Jahre später.
    Patienten der Gruppe A bekamen Drogen injiziert, die nur
ihren Willen lähmten, nicht ihren Körper, und manchmal zu vorübergehendem
Gedächtnisverlust führten. Diese Gruppe von Patienten konnte sich wieder
erholen. Man konnte sie befragen und später sogar entlassen. Sollten sie
dennoch den Drang zu weiterem Protest verspüren, behandelte man sie mit
Borax-Injektionen, die hohes Fieber, Krämpfe und qualvolle Hustenanfälle
auslösten. Für die Patienten der Gruppe B gab es zwei verschiedene Patientenakten,
in denen die Medikation festgehalten wurde. Der eine Datensatz, mit einer Liste
von Vitaminen und Stimulanzien, wurde in der Klinik im Stationszimmer
aufbewahrt. Ein weiterer Datensatz wurde im Safe des glawratsch aufbewahrt. Diese Akten belegten, dass den Patienten der
Gruppe B kontinuierlich kleine Dosen der neuroleptischen Droge Aminasin
injiziert wurden. Der im Lauf der Zeit bewirkte Schaden war irreversibel:
Verlust der Bewegungskoordination, Lähmung der Mundmuskulatur, was zu
Stimmungsschwankungen und ständigem Ausfluss von Speichel führte.
Teturan-Injektionen blockierten die Blutfermente und entzogen den Zellen den
Sauerstoff. Gruppe-B-Patienten wurden zu fügsamen, trägen, hirnlosen Robotern,
die sich hervorragend für eintönige manuelle

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