Shevchenko, A.K.
starrt Taras direkt an. Ein müdes,
bleiches Gesicht, das er kennt. Sie erkennt mich, denkt er. Er winkt ihr zu,
aber sie winkt nicht zurück. Er versteht, warum: Sie starrt durch ihn hindurch,
genau wie neulich im Museum. Offenbar ist das ihre Wartestrategie: ins Leere
starren, geistesabwesend hin und her schaukeln, die Handflächen zwischen die
Knie geklemmt. Ihr langer Hals bewegt sich eine Nanosekunde später als ihr Körper,
und dies wirkt, als studiere sie Tanzbewegungen ein, als spare sie ihre Energie
für das Wesentliche auf, als lausche sie einer Melodie in ihrem Kopf.
Zwei Begegnungen in drei Tagen, ein Zufall, den man nicht
ignorieren kann.
Dieses Mal lasse ich sie nicht entwischen, denkt Taras. Er
wird sie zu einer Tasse Kaffee einladen, und sie werden miteinander plaudern -
nichts Wichtiges, nur über den Nebel, über ihre Flugziele und über die Dauer
ihres Aufenthalts in Kiew. Taras steht auf und geht langsam zum Kiosk, um sich
in die lange Kaffeeschlange einzureihen. Fünf Minuten später, immer noch in der
Mitte der Schlange, ist er versucht, sich nach ihr umzudrehen, widersteht jedoch.
Der Nebel umhüllt den Flughafen so dicht, die Sitzplätze drinnen sind so
begehrt, dass sie wohl kaum versuchen wird, aus der Fortuna-Bar zu flüchten.
Kate
18
Kiew, April 2001
Die Stadt hat sich verändert, als hätte jemand einen
schwarzweißen Schnappschuss mit einem Hochglanzfarbfoto vertauscht. Vor vier
Jahren, als sie Kiew zum ersten Mal besuchte, war die Stadt mit einer grauen
Patina bedeckt - schmutziger Matsch auf der Straße, die bedrückenden Fassaden
der Sowjetbauten, mürrische Gesichter und unförmige Mäntel. Sie erinnert sich
nur noch vage an jene Winterreise. Ja, sie hat sogar versucht, sie aus ihrem
Gedächtnis zu löschen. Einer ihrer Klienten hatte dem Kloster Lawra in
Pechersk seine Ikonensammlung vermacht, und man hatte Kate hingeschickt, um die
Details der Überführung zu klären. Eigentlich hatte sie sich selbst
hingeschickt. Man hätte das alles per Telefon und Telefax erledigen können,
aber ihr war schmalzig zumute - der Lieblingsausdruck
ihrer jüdischen Freundin Tara. Ja, schmalzig war
definitiv das richtige Wort. Sie ging zu sentimental, zu nostalgisch und
neugierig mit ihren Wurzeln um und hatte doch keine allzu große Lust, vom
echten ukrainischen Schmalz zu kosten. Die Ukrainer nennen ihn salo, soweit
sie sich erinnert.
Die Reise damals war ein einziges Fiasko gewesen, ab dem
Moment, als Kate sich weigerte, einen 100 -Dollar-Schein
in ihren Pass zu legen, obwohl ihr der Zollbeamte mit dem Hinweis auf eine
»Ausländersteuer« einen Wink mit dem Zaunpfahl gegeben hatte.
Na klar doch, hatte sie damals gedacht. Bekomm ich dann
eine Quittung? Und warum hängt hier nicht eine Kopie des entsprechenden
Gesetzes aus - und auf Englisch? Schließlich bin ich Anwältin und vertrete das
Gesetz. Von Bestechung ist in meiner Jobbeschreibung nicht die Rede!
Na ja, 1oo Dollar sind keine große Summe, dachte sie eine
Stunde später, als sie sich durch die dämmrige, verrauchte Halle in Richtung
Ausgang kämpfte - wenn man bedenkt, was man sich damit ersparen kann: die
peinlich genaue Inspektion farblich nicht zusammenpassender Unterwäsche, das
boshafte Feixen der Zollbeamten, die totale Demütigung.
In der Menge geriet sie in einen Kreis von ein paar
Männern mittleren Alters, die alle schwarze Lederjacken trugen. Wiederholt
stießen sie eine griechisch klingende Beschwörung aus - Nadotaxinadotaxi - und versuchten, ihre Hand, ihren Koffer zu ergreifen.
Zum Glück hatte Kate gehört, wie jemand außerhalb des Kreises ihren Namen rief,
und so kämpfte sie sich weiter durch die Menge. Auf dem Weg in die Stadt, als
sie in dem alten Wolga saß, den ihre Gastgeber ihr zum Flughafen geschickt
hatten, begriff sie: Bei den Männern mit den kultischen Beschwörungsformeln
handelte es sich um eine Gruppe privater Chauffeure, die um Fahrgäste buhlten.
Und offenbar verzweifelt nach Arbeit suchten - deshalb der Griff nach Kates
Gepäck. Ihr Gesang »Taxi? Nado Taxi?« bedeutete
schlicht »Brauchen Sie ein Taxi?«.
Da das Stadtzentrum so dunkel und feindselig wirkte,
verschob Kate das Sightseeing auf den nächsten Morgen: Ihr Treffen mit dem Abt
des Klosters und der Injurcoliegia, der
nationalen Erbschaftsbehörde, fand erst um drei Uhr nachmittags statt. Im
Hotel empfing sie die strengblickende Empfangsdame. Tschai? Tee?«,
fragte sie. Noch eine Frage aus dem Mund dieser Frau, hatte Kate
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