Shibumi: Thriller (German Edition)
setzte sich auf den äußeren Rand eines Stuhls, denn da er drei Jahre lang keinen anderen Sitzplatz gekannt hatte als seine Stahlpritsche, hatte er es verlernt, sich anzulehnen und zu entspannen. Nachdem so lange kein Mensch mehr höflich mit ihm gesprochen hatte, fand er das gewandte Geplauder des Agenten weniger beunruhigend als läppisch.
»Ich habe uns Tee bestellt«, erklärte der Agent mit jener rauen Burschikosität, die er im gesellschaftlichen Umgang immer höchst wirkungsvoll gefunden hatte. »Eins muss man diesen Japanern ja lassen; sie machen einen guten Tee – das, was meine englischen Freunde a nice cuppa nennen würden.« Er lachte über seinen misslungenen Versuch, den Cockney-Akzent zu imitieren.
Hel beobachtete ihn schweigend und genoss ein wenig die Tatsache, dass der Amerikaner durch den Anblick seines zerschlagenen Gesichtes so sehr aus dem Gleichgewicht gebracht wurde, dass er zunächst unbehaglich wegblickte, sich dann aber zwang, ihn ohne erkennbaren Abscheu offen anzusehen.
»Sie machen einen recht gesunden Eindruck, Mr. Hel. Ich hatte eigentlich erwartet, dass die Auswirkungen Ihrer körperlichen Untätigkeit sich bemerkbar machen würden. Aber Sie haben natürlich einen Vorteil vor uns da draußen: Sie essen nicht zu viel. Wenn Sie mich fragen – die meisten Leute essen einfach zu viel. Der menschliche Körper käme mit einer weit geringeren Nahrungsmenge aus. Wir verstopfen sozusagen das Rohr mit Verpflegung, meinen Sie nicht auch? Ah, da kommt der Tee!«
Der Wärter kam mit einem Tablett herein, auf dem eine dicke Kanne und zwei henkellose japanische Tassen standen. Der Agent schenkte ein – tapsig wie ein gutmütiger Bär, als wäre mangelnde Geschicklichkeit ein Zeichen von Virilität. Hel nahm die dargebotene Tasse, trank aber nicht.
»Prost!«, sagte der Agent vor dem ersten Schluck. Dann schüttelte er lachend den Kopf. »Ich glaube, beim Teetrinken sagt man nicht Prost. Was sagt man da eigentlich?«
Hel stellte seine Tasse neben sich auf den Tisch. »Was wollen Sie von mir?«
Ausgebildet in überzeugender Rhetorik von Mann zu Mann und im Umgang mit kleinen Gruppen, vermeinte der Agent eine gewisse Kälte in Hels Verhalten zu entdecken; also befolgte er die Richtlinien seiner Ausbildung und ging auf die Stimmung seines Gegenübers ein. »Ich glaube, Sie haben Recht, Mr. Hel. Wir kommen am besten gleich zur Sache. Sehen Sie, ich habe mir Ihren Fall angesehen, und wenn Sie mich fragen, so hat man Ihnen übel mitgespielt. Das ist jedenfalls meine Meinung.«
Hel betrachtete das offene, freimütige Gesicht des jungen Mannes, das er am liebsten zerschlagen hätte. Um diesen Impuls zu unterdrücken, senkte er seinen Blick schnell wieder und antwortete: »So, so. Ist sie das?«
Der Agent klappte sein Grinsen zusammen und packte es ein. Er würde nicht länger um den heißen Brei herumreden. Er würde ihm einfach die Wahrheit sagen. In seinem Überredungskurs hatte er sich ein Motto eingeprägt: Übersieh niemals die Wahrheit; richtig angewandt, kann sie eine wirksame Waffe sein. Aber vergiss nicht, dass Waffen durch zu häufigen Gebrauch stumpf werden.
Er beugte sich vor und sagte in freimütigem, mitfühlendem Ton: »Ich glaube, ich kann Sie hier herausholen, Mr. Hel.«
»Um welchen Preis?«
»Spielt das eine Rolle?«
Hel überlegte einen Moment. »Ja.«
»Okay. Wir haben einen Auftrag zu vergeben. Sie sind der richtige Mann dafür. Als Lohn bieten wir Ihnen die Freiheit.«
»Meine Freiheit habe ich … Sie meinen, der Lohn ist meine Freilassung.«
»Wie immer Sie es nennen wollen.«
»Was für eine Art ›Freiheit‹ bieten Sie denn?«
»Wie bitte?«
»Freiheit – um was zu tun?«
»Ich kann Ihnen nicht folgen. Freiheit, Mann – Libertät! Sie können tun, was Sie wollen, können gehen, wohin Sie wollen.«
»Ach so, ich verstehe! Sie bieten mir außerdem eine Staatsangehörigkeit und eine beträchtliche Geldsumme an.«
»Nun ja … nein. Ich meine … Passen Sie auf, ich bin ermächtigt, Ihnen die Freiheit zu bieten, aber niemand hat etwas von Staatsangehörigkeit oder Geld gesagt.«
»Verzeihung, ich möchte sicher sein, dass ich Sie verstehe. Sie bieten mir also die Möglichkeit, in Japan umherzuwandern, jederzeit wieder verhaftet zu werden, staatenlos zu sein, und die Freiheit, überall hinzugehen und alles zu tun, was kein Geld kostet. Ist das richtig?«
Die zunehmende Verunsicherung des Agenten bereitete Hel Genugtuung. »Äh … Ich sage nur, dass die
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