Shibumi: Thriller (German Edition)
latente Konflikte zwischen den beiden Staaten gab: Fragen des Grenzverlaufs, der Ideologie, der ungleichen industriellen Entwicklung und nicht zuletzt ein wechselseitiges, rassistisch unterlegtes Misstrauen. Die Asienexperten entwarfen einen Plan, wie man die unterschwelligen Differenzen ausnutzen und eine sich anbahnende Union verhindern könnte. Sie schlugen vor, einen Agenten nach Peking zu schicken, der den Leiter der sowjetischen Kommission umbringen und ihm inkriminierende Direktiven aus Moskau unterschieben sollte. Die Chinesen sollten glauben, die Russen hätten einen der ihren geopfert, um als Vorwand für den Abbruch der Verhandlungen einen Zwischenfall zu inszenieren. Die Sowjets, die es ja besser wussten, sollten annehmen, die Chinesen hätten diesen Schlag geführt – und zwar aus demselben Grund. Und wenn die Chinesen als Beweis für das falsche Spiel der Russen die inkriminierenden Direktiven vorgelegt hätten, würden die Sowjets behaupten, Peking habe die Dokumente gefälscht, um ein feiges Attentat zu rechtfertigen. Die Chinesen, die genau wussten, dass das nicht der Fall war, würden sich in ihrer Überzeugung bestätigt sehen, das Ganze sei ein russisches Komplott.
Dass der Plan funktioniert hat, ist durch die Tatsache bewiesen, dass die chinesisch-russischen Beziehungen sich niemals ernsthaft verbessert haben und heutzutage derart von Misstrauen und Feindseligkeit geprägt sind, dass die westlichen Blockstaaten mühelos den einen gegen den anderen ausspielen und dadurch eine ihnen mit Sicherheit überlegene Allianz verhindern können.
Das kleine Hindernis, das diesem genialen Plan anfangs im Wege stand, war die schier unüberwindliche Schwierigkeit, einen Agenten zu finden, der ausreichend Chinesisch sprach, um sich unentdeckt in diesem Land bewegen zu können, der aber gleichzeitig im Notfall für einen Russen durchgehen konnte – und der darüber hinaus bereit war, einen Auftrag zu übernehmen, der wenig Erfolgschancen und nach dem Attentat so gut wie keine Fluchtmöglichkeiten bot. Der Agent musste hochintelligent, mehrsprachig, ein ausgebildeter Attentäter und außerdem in einer derart verzweifelten Lage sein, dass er einen Auftrag annahm, der noch nicht einmal eine Überlebenschance von eins zu hundert bot.
Die CIA durchsuchte daraufhin alle ihre Personalunterlagen anhand dieser Kriterien und fand unter den in ihrem Machtbereich verfügbaren Männern nur einen einzigen, der all diese Bedingungen erfüllte …«
JAPAN
Es war Frühherbst, der vierte, den Hel in seiner Zelle des Sugamo-Gefängnisses verbrachte. Er kniete gerade, in ein kniffliges Problem der baskischen Grammatik vertieft, auf dem Fußboden vor seinem Schreibtisch-Bett, als er spürte, wie die Haarwurzeln in seinem Nacken zu prickeln begannen. Er hob den Kopf und konzentrierte sich auf die Projektionen, die er empfing. Die Aura der Person, die näher kam, war ihm unbekannt. Er vernahm Geräusche an seiner Zellentür, dann wurde sie aufgestoßen. Ein freundlich lächelnder Wärter mit einer dreieckigen Narbe auf der Stirn, den Nikolai noch nie gesehen oder wahrgenommen hatte, trat ein.
Der Wärter räusperte sich. »Kommen Sie bitte mit.«
Hel krauste die Stirn. Die O-nasai- Form? Respektvolle Anrede von einem Wärter einem Gefangenen gegenüber? Sorgfältig ordnete er seine Notizen und schloss das Buch; dann erst erhob er sich. Er befahl sich, ruhig und vorsichtig zu sein. Diese nie da gewesene Unterbrechung der Routine konnte Hoffnung bedeuten … ebenso gut aber auch Gefahr. Vor dem fremden Wärter hergehend, verließ er die Zelle.
»Mr. Hel? Freut mich, Sie kennenzulernen.« Der elegante junge Mann erhob sich, als Hel das Sprechzimmer betrat, und schüttelte ihm herzlich die Hand. Der Kontrast zwischen seinem maßgeschneiderten Ivy-League- Anzug mit der seidenen Krawatte und Hels zerdrückter grauer Gefängniskluft war ebenso groß wie der zwischen ihrer äußeren Erscheinung und ihrem Auftreten. Der selbstbewusste CIA -Agent war robust und athletisch; er übte jene schulterklopfende, Vornamen gebrauchende Jovialität, die den amerikanischen Vertreter kennzeichnet. Hel dagegen, schlank und drahtig, war zurückhaltend und kühl. Der Agent, bekannt für seine Gabe, überall und sofort Vertrauen zu erwecken, war ein Mann des Wortes und der Logik. Hel war ein Mensch der tieferen Bedeutung und der Untertöne. Sie waren wie Rammbock und Rapier.
Der Agent bedeutete dem Wärter mit einem Kopfnicken, er könne gehen. Hel
Weitere Kostenlose Bücher