Shibumi: Thriller (German Edition)
das Dach des Palace Hotel; eine andere explodierte vor dem Café Hotel. Es gab siebenhundertneunundzwanzig Tote und achthunderteinundsechzig Verwundete. Einunddreißig Minuten später bombardierte ein weiteres chinesisches Flugzeug den »Great World Amusement Park«, der als Flüchtlingslager für Frauen und Kinder diente. Man zählte eintausendundzwölf Tote und eintausendundsieben Verwundete.
Für die in der Falle sitzenden chinesischen Zivilisten gab es kein Entrinnen aus Shanghai; die Truppen des Generalissimus hatten alle Straßen gesperrt. Für die ausländischen taipans jedoch gab es natürlich Fluchtmöglichkeiten. Schwitzende Kulis ächzten und sangen hei-ho, hei-ho, während sie unter der Anleitung junger Herrensöhnchen in weißen Anzügen mit Kontrolllisten in der Hand und beaufsichtigt von Gurkhas mit ihren Totschlägern die Beute aus China die Laufplanken emporschleppten. Die Briten auf der »Raj Putana«, die Deutschen auf der »Oldenburg«, die Amerikaner auf der »President McKinley«, die Holländer auf der »Tasman« verabschiedeten sich voneinander, die Damen betupften mit winzigen Taschentüchlein ihre Augen, während die Herren Schmähreden gegen die unzuverlässigen und undankbaren Asiaten vom Stapel ließen und im Hintergrund die Schiffskapellen ein Durcheinander verschiedener Nationalhymnen ertönen ließen.
In jener Nacht eröffnete Chiang Kai-sheks Artillerie im Schutz der Barrikaden aus Sandsäcken und der Zivilbevölkerung das Feuer auf die im Fluss ankernden japanischen Schiffe. Die Japaner erwiderten das Feuer und zerstörten beide Arten von Barrikaden.
Während all dieser Vorgänge weigerte sich Alexandra Iwanowna, ihr Haus in der Avenue Joffre zu verlassen, einer inzwischen ausgestorbenen Straße, deren zerborstene Fenster dem Abendwind und den Plünderern offen standen. Da sie keiner Nationalität angehörte, weder der sowjetischen noch der chinesischen oder britischen, stand sie außerhalb aller offiziellen Schutzsysteme. Zudem hatte sie ohnehin nicht die Absicht, in ihrem Alter ihr Haus und ihre sorgfältig zusammengestellte Einrichtung zu verlassen und sich Gott weiß wo anzusiedeln. Schließlich, so argumentierte sie, seien die Japaner, die sie kenne, nicht langweiliger als andere Männer und könnten als Administratoren wohl kaum weniger tüchtig sein als die Engländer.
Ihren heftigsten Widerstand während des ganzen Krieges leisteten die Chinesen in Shanghai; drei Monate dauerte es, bis die zahlenmäßig unterlegenen Japaner sie vertreiben konnten. Bei dem Versuch, eine Intervention des Auslands zu provozieren, duldeten die Chinesen, dass eine Anzahl von Bombardierungs-»Irrtümern« den Zoll an Todesopfern und Zerstörungen durch japanischen Beschuss noch erhöhte.
Und sie hielten ihre Barrikaden quer über die Straßen intakt, um den Schutz durch den Puffer Zehntausender von Zivilisten – ihrer eigenen Landsleute – nicht zu verlieren.
Während dieser schrecklichen Monate gingen die zähen Chinesen Shanghais trotz des Beschusses durch die Japaner und der Bombardierung durch die von Amerikanern produzierten chinesischen Flugzeuge so gut wie möglich ihren alltäglichen Beschäftigungen nach. Zuerst wurden die Medikamente, dann die Lebensmittel, dann die Unterkünfte und schließlich das Wasser knapp; aber das Leben in der wimmelnden, verängstigten Stadt ging weiter; und die Banden der Jungens in blauem Drillich, mit denen Nikolai Streifzüge durch die Straßen unternahm, erfanden neue, grausamere Spiele, in denen die einstürzenden Häuserruinen, die verzweifelte Flucht in improvisierte Luftschutzkeller und das Baden in Geysiren aus geborstenen Wasserleitungen eine bevorzugte Rolle spielten.
Einmal entrann Nikolai nur knapp dem Tod. Er befand sich mit anderen Straßenjungen in der Nähe der großen Warenhäuser, des »Wing On« und des »Sincere«, als einer der erwähnten »Irrtümer« chinesische Sturzkampfbomber über die belebte Nanking Road hinwegführte. Es war gerade Mittagspause, und so war eine dichte Menschenmenge auf der Straße, als das »Sincere« einen Volltreffer bekam und eine Hälfte des »Wing On« wegrasiert wurde. Schwere stuckverzierte Decken brachen auf die voller Entsetzen emporgewandten Gesichter der Menschen herab. Die Käufer in einem überfüllten Aufzug schrien auf, als ein Kabel riss und die Kabine in den Keller stürzte. Einer alten Frau, die vor einem explodierenden Fenster stand, wurde vorn das Fleisch vom Körper gefetzt, während
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