Shibumi: Thriller (German Edition)
Verlobten dieses edle Gefühl für Anstand und Sitte teilen möchten. Mit verstohlenem Achselzucken, vielsagendem Räuspern und geschürzten Lippen deuteten diese Damen an, dass sie einen ursächlichen Zusammenhang zwischen zwei gesellschaftlichen Paradoxien vermuteten: zwischen dem Umstand nämlich, dass die Gräfin ein großzügiges Haus führte, obwohl sie völlig mittellos gekommen war, und dem, dass sie ständig von den begehrtesten Männern der internationalen Kolonie umschwärmt wurde, obwohl ihr doch all die Tugenden fehlten, die nach dem Urteil ihrer Mütter weitaus wichtiger und beständiger waren als Charme und Schönheit. Diese Frauen hätten die Gräfin mit Wonne zu jenen Weißrussinnen gezählt, die aus der Mandschurei nach China hereinkamen, alles verkauften, was sie an Wertgegenständen und Schmuck auf ihrer Flucht hatten mitnehmen können, und schließlich gezwungen waren, sich ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf ihres Körpers zu verdienen. Doch diese bequeme Lösung wurde den strengen, selbstgerechten Damen durch den Umstand verwehrt, dass die Gräfin eine der am Zarenhof keinesfalls außergewöhnlichen Anomalien war: eine russische Adelige ohne einen Tropfen slawisches Blut in ihrem allzu sehr ins Auge fallenden (und möglicherweise käuflichen) Körper. Alexandra Iwanowna (deren Vater eigentlich Johann geheißen hatte) war eine Habsburgerin mit Nebenverbindungen zu einer unbedeutenden deutschen Adelsfamilie, die nach England emigriert war, ohne eine andere Empfehlung mitzubringen als ihr Protestantentum, und die als patriotische Geste ihren Namen geändert hatte, damit er weniger germanisch klang. Dennoch behaupteten die tugendsamen Damen der Kolonie, dass selbst solch illustre Familienbande in diesen leichtlebigen Zeiten weder ein Beweis für korrekte Moral noch, entgegen der offensichtlichen Überzeugung der Gräfin, ein angemessener Ersatz dafür seien.
Während der dritten Saison ihrer Herrschaft über die feine Gesellschaft schien sich Alexandra Iwanownas Aufmerksamkeit auf einen hochmütigen jungen Preußen zu konzentrieren, der mit jener klaren, oberflächlichen, von jeglicher Sensibilität unbelasteten Intelligenz gesegnet war, die für seinen Menschenschlag typisch ist. Graf Helmut von Keitel zum Hel wurde ihr ständiger Begleiter – ihr Schoßhund und Spielzeug. Zehn Jahre jünger als sie selbst, erfreute sich der Graf außerordentlicher Schönheit und beachtlicher sportlicher Meisterschaft. Er war ein erstklassiger Reiter und ein Fechter von Rang. Sie sah in ihm einen dekorativen Hintergrund für ihre eigene Person, und die einzige Bemerkung, die sie jemals in der Öffentlichkeit über ihr Verhältnis zu ihm machte, lautete, er sei »adäquates Zuchtmaterial«.
Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die drückend schwülen Sommermonate in einer Villa im Hochland zu verbringen. Einmal kehrte sie im Herbst später als sonst nach Shanghai zurück, und von dem Tag an gehörte ein Säugling zu ihrem Haushalt. Der Form halber bat der junge von Keitel zum Hel um ihre Hand. Sie lachte darauf ein bisschen ironisch und antwortete, sie hege nicht die geringste Lust, zwei Kinder im Haus zu haben. Er verbeugte sich mit jener steifen Verdrossenheit, die den Preußen als Ersatz für Würde dient, und kehrte noch im selben Monat nach Deutschland zurück.
Weit davon entfernt, den Jungen oder die Umstände seiner Geburt zu verbergen, machte sie ihn zum Paradestück ihres Salons. Als offizielle Aufforderungen es unumgänglich machten, dass sie ihm einen Namen gab, nannte sie ihn Nikolai Hel, wobei sie den Nachnamen von einem Flüsschen ausborgte, an das die Besitzungen derer von Keitel grenzten. Alexandra Iwanownas Auffassung ihrer eigenen Rolle bei der Produktion des Jungen aber manifestierte sich darin, dass er mit vollem Namen Nikolai Alexandrowitsch Hel hieß.
Im Haus löste ein englisches Kindermädchen das andere ab, so dass sich zu den Sprachen, die er von der Wiege auf lernte – Französisch, Russisch und Deutsch –, nun auch noch das Englische gesellte, wobei keines dieser Idiome bevorzugt wurde, es sei denn durch Alexandra Iwanownas Überzeugung, bestimmte Gedanken ließen sich am besten in einer bestimmten Sprache ausdrücken. So redete man von Liebe und anderen Trivialitäten auf Französisch; diskutierte Tragödien und Katastrophen auf Russisch; tätigte Geschäfte auf Deutsch; und sprach mit den Dienstboten Englisch.
Da Nikolais einzige Spielgefährten die Sprösslinge der
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