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Shibumi: Thriller (German Edition)

Shibumi: Thriller (German Edition)

Titel: Shibumi: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Trevanian
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Dienerschaft waren, lernte er auch Chinesisch, ja, er gewöhnte es sich sogar an, in dieser Sprache zu denken, weil die größte Angst seiner Kindheit in der Vorstellung bestand, seine Mutter könne Gedanken lesen – und die Gräfin verstand kein Chinesisch.
    Da nach Alexandra Iwanownas Meinung Schulen höchstens für Kaufmannskinder taugten, wurde Nikolais Erziehung einer Reihe von Hauslehrern anvertraut, die allesamt sehr schmucke junge Männer und seiner Mutter treu ergeben waren. Als sich herausstellte, dass Nikolai ein Interesse an und eine beachtliche Begabung für theoretische Mathematik zeigte, war seine Mutter keineswegs begeistert. Da ihr der aktuelle Hauslehrer jedoch versicherte, die Mathematik sei ein Studienfach ohne jeden praktischen oder kommerziellen Nutzen, befand sie, die Beschäftigung damit sei seinem Stande angemessen.
    Die praktischen Aspekte seiner sozialen Erziehung – und seine Vergnügungen – verdankte Nikolai der Gewohnheit, sich heimlich aus dem Haus zu stehlen und mit chinesischen Straßenjungen durch die Gassen und die verborgenen Winkel der wimmelnden, stinkenden und lärmenden Stadt zu streifen. Er erlebte, wie überhebliche britische Herrensöhnchen sich von ausgemergelten, tuberkulösen Rikscha-»Boys« ziehen ließen, die vor Anstrengung und Unterernährung schwitzten und Gazemasken trugen, um die europäischen Herren nicht mit ihrem Atem zu belästigen. Er sah compradores – eingeborene Handelsagenten –, fette, schleimige Mittelsmänner, die von der Ausbeutung ihres eigenen Volkes durch die Europäer profitierten und die westliche Lebensart und Moral nachäfften. Nachdem sie ihren Gewinn eingestrichen und sich mit exotischen Speisen vollgestopft hatten, war es das größte Vergnügen dieser compradores, zwölf- oder dreizehnjährige Mädchen zu entjungfern, die in Hangtschou oder Sutschou für die von den Franzosen lizenzierten Freudenhäuser gekauft worden waren. Ihre Praxis der Defloration war … nun, ungewöhnlich. Rächen konnten sich die Mädchen nur, indem sie, sofern sie schauspielerisch begabt waren, den einträglichen Trick anwendeten, sich möglichst oft entjungfern zu lassen. Nikolai erfuhr, dass alle Bettler, die die Passanten mit ihren faulenden Gliedern zu berühren drohten, die Kleinkinder mit Nadeln stachen, damit sie mitleiderregend weinten, oder Touristen mit ihrer Forderung nach kumshah bedrängten und einschüchterten – dass sie alle, von dem Alten, der die Vorübergehenden verfluchte oder segnete, bis zu den halb verhungerten Kindern, die sich erboten, zum Vergnügen der Fremden unnatürliche Handlungen miteinander zu vollziehen, unter der Herrschaft seiner Allergefürchtetsten Majestät, des Königs der Bettler, standen, der eine merkwürdige Kombination von Gilde und Schutzorganisation leitete. Alles, was man in der City verlor, jeden, der sich in der City versteckte, jede Dienstleistung, die man in der City wünschte, konnte man mithilfe eines bescheidenen Beitrags für die Schatztruhe Seiner Majestät finden.
    Unten am Hafen beobachtete Nikolai schwitzende Packer, wie sie die Laufplanken stählerner Schiffe und hölzerner Dschunken, deren Bug mit schielenden Augen bemalt war, auf und ab trotteten. Gegen Abend, wenn sie schon elf Stunden geschuftet und dabei ihr unaufhörliches, monotones hei-ho, hei-ho gesungen hatten, ließen die Kräfte der Lastträger nach, und zuweilen begann einer unter der Bürde zu stolpern. Dann griffen dieGurkhas mit ihren Totschlägern und Eisenstangen ein, und der Faulpelz kam plötzlich wieder zu Kräften – oder zur ewigen Ruhe.
    Und Nikolai sah, wie die Polizei ganz offen Bestechungsgelder von verschrumpelten Amahs annahm, die halbwüchsige Prostituierte verkuppelten. Er lernte die Geheimzeichen der »Grünen« und »Roten« erkennen, die die größten Geheimgesellschaften der Welt bildeten und deren Schutz- und Mordorganisationen alles, vom Bettler bis zum Politiker, zu ihren Mitgliedern zählten. Chiang Kai-shek selbst war ein »Grüner« und hatte der Bande Gehorsam geschworen. Und die »Grünen« waren es, von denen junge Studenten, die das chinesische Proletariat organisieren wollten, ermordet und verstümmelt wurden. Nikolai war in der Lage, einen »Roten« oder »Grünen« an der Art zu erkennen, wie er ausspuckte oder seine Zigarette hielt.
    Tagsüber lernte Nikolai von seinen Hauslehrern Mathematik, klassische Literatur und Philosophie. Abends lernte er auf der Straße Handel, Politik, aufgeklärten

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