Shibumi: Thriller (German Edition)
selber überaus ernst nimmt und leidet, wenn man in Verlegenheit gebracht wird.
»Wenn du willst, helfe ich dir bei deinem Japanischstudium«, schlug Kishikawa-san vor. »Zuerst aber wollen wir sehen, ob du ein interessanter Gegner beim Go-Spiel bist.«
Nikolai wurde eine Vorgabe von vier Steinen zugestanden, und da der General am folgenden Tag viel Arbeit hatte, spielten sie nur eine kurze Partie auf Zeit. Nicht lange, und sie waren so sehr darin vertieft, dass Alexandra Iwanowna, die noch nie viel von geselligen Betätigungen gehalten hatte, deren Mittelpunkt sie nicht war, über einen Schwächezustand klagte und sich zurückzog. Der General gewann, doch nicht so mühelos, wie er es erwartet hatte. Da er ein talentierter Amateur war, der den Profis mit minimaler Vorgabe harte Kämpfe lieferte, war er von Nikolais außergewöhnlicher Spieltaktik tief beeindruckt.
»Wie lange spielst du schon Go?«, erkundigte er sich auf Französisch, um Nikolai der Mühe zu entheben, sich erneut im Japanischen versuchen zu müssen.
»Vier bis fünf Jahre, Sir.«
Der General runzelte die Stirn. »Fünf Jahre? Wie alt bist du denn?«
»Fünfzehn, Sir. Ich weiß, ich sehe jünger aus. Das ist eine Familieneigenschaft.«
Kishikawa-san nickte und lächelte, denn er dachte an Alexandra Iwanowna, die sich beim Ausfüllen ihrer Personalbögen für die Besatzungsmacht diese »Familieneigenschaft« zunutze gemacht und kühn ein Geburtsdatum eingesetzt hatte, nach dem sie im Alter von elf Jahren die Mätresse eines Generals der weißrussischen Armee gewesen sein und Nikolai zur Welt gebracht haben musste, als sie noch weit unter zwanzig war. Der Geheimdienst des Generals hatte ihn längst über das Vorleben der Gräfin unterrichtet, doch er ließ ihr diese kleine Koketterie durchgehen, vor allem mit Rücksicht auf das, was er über ihre traurige Krankengeschichte wusste.
»Selbst für einen Mann von fünfzehn Jahren spielst du bemerkenswert gut, Nikko.« Im Verlauf ihres Spiels hatte der General diesen Kurznamen erfunden, der es ihm gestattete, das für seine Zunge mühsame l zu vermeiden. Er sollte sein persönlicher Name für Nikolai bleiben. »Ich nehme an, du hast bisher keine richtige Ausbildung im Go-Spiel gehabt?«
»Nein, Sir. Ich habe überhaupt noch keine Ausbildung gehabt. Ich habe es aus Büchern gelernt.«
»Wirklich? Nun, das ist erstaunlich!«
»Mag sein, Sir. Aber ich bin sehr intelligent.«
Sekundenlang musterte der General das ausdruckslose Gesicht des Jungen, dessen absinthgrüne Augen seinen Blick frei und offen erwiderten. »Sag mal, Nikko, warum hast du dir ausgerechnet Go ausgesucht? Das ist doch ein fast ausschließlich japanisches Spiel. Von deinen Freunden kann es bestimmt keiner. Wahrscheinlich haben sie noch nicht mal davon gehört.«
»Eben darum habe ich es gewählt, Sir.«
»Aha.« Seltsamer Junge. Grenzenlos ehrlich und arrogant zugleich. »Hast du aus deinen Büchern auch gelernt, welche Eigenschaften erforderlich sind, um ein guter Go-Spieler zu werden?«
Nikolai überlegte einen Moment, ehe er antwortete. »Nun ja, Konzentrationsvermögen natürlich. Mut. Selbstbeherrschung. Das versteht sich von selbst. Aber noch wichtiger ist ein … Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Man muss sowohl ein guter Mathematiker sein als auch ein Poet. Als wäre die Poesie eine Naturwissenschaft oder die Mathematik eine Kunst. Wenn man ein guter Go-Spieler werden will, muss man ein Gefühl für Proportionen haben. Ich drücke mich nicht sehr gewandt aus, Sir. Es tut mir leid.«
»Im Gegenteil! Dein Versuch, das Unausdrückbare auszudrücken, ist sehr gut gelungen. Von diesen Eigenschaften, Nikko, die du aufgezählt hast – was glaubst du, in welchen davon deine Stärke liegt?«
»In der Mathematik, Sir. In Konzentration und Selbstbeherrschung.«
»Und deine Schwäche?«
»Das, was ich als Poesie bezeichnet habe.«
Stirnrunzelnd wandte der General den Blick von dem Jungen ab. Sonderbar, dass er das erkannt hatte! In seinem Alter hätte er noch nicht so viel Distanz zu sich selbst haben dürfen, dass er sich derart objektiv beobachten konnte. Es war zwar zu erwarten, dass Nikko die Erfordernisse bestimmter westlicher Eigenschaften für das Go-Spiel erfasste, Eigenschaften wie Konzentration, Selbstbeherrschung und Mut. Doch die Erkenntnis der Notwendigkeit jener rezeptiven, sensitiven Eigenschaften, die er als Poesie bezeichnete, lag außerhalb der linearen Logik, die die Stärke des westlich
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