Shibumi: Thriller (German Edition)
Nikolai musste also einen anderen Verständigungscode finden. Er entschied sich für die Kryptographie des Go-Spiels und erinnerte den General beim Aufbau des kleinen Magnetspielbrettes daran, dass Otake-san stets die Begriffe seines heißgeliebten Spiels benutzt hatte, wenn er von wichtigen Dingen sprach.
»Möchten Sie das Spiel fortsetzen, Sir?«, erkundigte sich Nikolai. »Die Atmosphäre ist negativ geworden: Aji ga warui. «
Kishikawa-san blickte ein wenig verwirrt zu ihm auf. Sie hatten erst vier oder fünf Züge gemacht, daher war diese Bemerkung höchst sonderbar.
Drei weitere Züge wurden schweigend gespielt, bevor der General zu ahnen begann, was Nikolai wohl gemeint haben könnte. Er testete seine Vermutung, indem er sagte: »Mir scheint, dass sich unser Spiel im korigatachi befindet und ich in meiner Position festgenagelt bin, ohne die Möglichkeit einer Weiterentwicklung.«
»Nicht ganz, Sir. Ich sehe die Möglichkeit eines sabaki, aber natürlich müssten Sie sich den hama anschließen.«
»Wäre das nicht gefährlich für dich? Entstünde dadurch nicht eine ko- Situation?«
»Eigentlich eher uttegae. Doch ich sehe keinen anderen Ausweg für Ihre Ehre – und für die meine.«
»Nein, Nikko. Du bist zu liebenswürdig. Diese Geste kann ich nicht annehmen. Für dich wäre ein solcher Zug eine äußerst gefährliche Attacke, ein selbstmörderisches de.«
»Ich bitte nicht um Ihre Erlaubnis. In eine solche Situation kann ich Sie unmöglich bringen. Da ich allein entschieden habe, wie ich weiterspielen will, werde ich Ihnen die Konfiguration erklären. Man glaubt, ein tsuru no sugomori zu haben. In Wirklichkeit steht man aber vor einem seki. Man wollte Sie mit einem shicho in die Enge treiben, aber mir ist es vergönnt, Ihr shicho atari zu sein.«
Aus den Augenwinkeln sah Nikolai, dass einer der japanischen Wärter die Stirn runzelte. Offenbar spielte er selbst ein wenig und merkte, dass kein rechter Sinn in diesem Gespräch lag.
Nikolai langte über den rohen Holztisch und legte dem General die Hand auf den Arm. »Pflegevater, die Partie wird in zwei Minuten enden. Gestatten Sie mir, Sie zu führen.«
Tränen der Dankbarkeit stiegen in Kishikawa-sans Augen. Er wirkte zerbrechlicher als zuvor, uralt und zugleich kindlich. »Aber ich kann doch nicht zulassen …«
»Ich handele ohne Ihre Erlaubnis, Sir. Ich habe beschlossen, einen Akt liebevollen Ungehorsams zu vollführen. Ich bitte Sie nicht einmal um Vergebung.«
Nach kurzem Überlegen nickte Kishikawa-san. Ein leichtes Lächeln drückte die Tränen aus seinen Augen; sie rollten zu beiden Seiten der Nase hinab. »Dann führe mich.«
»Wenden Sie den Kopf und sehen Sie zum Fenster hinaus, Sir. Der Himmel ist bedeckt, und es regnet, doch bald wird die Zeit der Kirschblüte kommen.«
Kishikawa wandte den Kopf und blickte gelassen hinaus auf das Rechteck nassen grauen Himmels. Nikolai zog einen Bleistift aus der Tasche und hielt ihn lässig zwischen den Fingern. Während er sprach, konzentrierte er sich auf die Schläfe des Generals, wo unter der durchsichtigen Haut schwach der Puls klopfte.
»Wissen Sie noch, wie wir unter den Kirschblüten am Kajikawa spazieren gegangen sind, Sir? Richten Sie Ihre Gedanken bitte darauf. Denken Sie daran, wie Sie vor Jahren dort mit Ihrer Tochter spazieren gegangen sind, ihre kleine Hand in der Ihren. Denken Sie daran, wie Sie am selben Flussufer mit Ihrem Vater spazieren gegangen sind, Ihre kleine Hand in der seinen. Konzentrieren Sie sich auf diese Erinnerungen.«
Kishikawa-san senkte den Blick und zwang seine Gedanken zur Ruhe, während Nikolai leise weitersprach. Die einschläfernde Monotonie seiner Stimme war dabei weit wichtiger als die Worte. Nach ein paar Sekunden blickte der General zu Nikolai auf; die Andeutung eines Lächelns ließ Fältchen an seinen Augenwinkeln erscheinen. Er nickte.
Dann wandte er sich wieder der grauen tropfnassen Szene vor dem Fenster zu.
Während Nikolai in leisem Ton weitersprach, war der amerikanische Militärpolizist selbstvergessen damit beschäftigt, mit dem Fingernagel etwas zwischen seinen Zähnen hervorzuholen; bei dem gescheiteren der beiden japanischen Wärter jedoch, den der Inhalt dieses Gesprächs beunruhigte und verwirrte, spürte Nikolai Nervosität. Plötzlich, mit einem Aufschrei, machte der Russe einen Satz nach vorn.
Zu spät.
Sechs Stunden lang saß Nikolai in einem fensterlosen Vernehmungsraum, nachdem er sich ohne Gegenwehr oder irgendwelche
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