Shibumi: Thriller (German Edition)
dafür gesorgt, dass ich morgen wiederkommen darf. Danach … werde ich bei ihm einen neuen Antrag stellen und abwarten.«
Der General schüttelte den Kopf. »Ein sehr gerissener Mann, dieser Oberst.«
»Inwiefern, Sir?«
»Er hat es geschafft, meinen ›Stein der Zuflucht‹ vom Brett zu entfernen.«
»Sir?«
»Was meinst du wohl, Nikko, warum sie dir erlaubt haben, mich zu besuchen? Aus Mitleid? Nein. Weißt du, sobald sie mir jede Möglichkeit genommen hatten, in einen ehrenvollen Tod zu fliehen, beschloss ich, den Prozess in Schweigen durchzustehen, in einem möglichst würdigen Schweigen. Ich wollte nicht, wie andere vor mir es getan haben, mich dadurch zu retten suchen, dass ich Freunde und Vorgesetzte belastete. Das hat Oberst Gorbatow und seinen Landsleuten nicht gepasst. Es hätte sie um den Propagandawert ihres einzigen Kriegsverbrechers betrogen. Aber sie konnten nichts dagegen machen. Ich stand über den Sanktionen, die sie mir androhten, und auch über der Verlockung ihrer Milde. Und sie hatten keine emotionalen Geiseln gegen mich, weil meine Familie, wie sie wussten, bei dem Großangriff auf Tokio umgekommen war. Doch dann … dann sandte das Schicksal dich.«
»Mich, Sir?«
»Gorbatow war scharfsichtig genug zu erkennen, dass du deine prekäre Position bei der Besatzungsmacht nicht durch den Versuch, mich zu besuchen, aufs Spiel setzen würdest, es sei denn, du liebtest und ehrtest mich. Und er folgerte – durchaus zutreffend –, dass ich diese Gefühle erwidere. So hat er nun doch seine emotionale Geisel bekommen. Er hat dir gestattet, mich zu besuchen, um mir zu zeigen, dass er dich in der Hand hat. Und er hat dich in der Hand, Nikko. Du bist ungeheuer verwundbar. Du hast keine Staatsbürgerschaft, es gibt kein Konsulat, das dich schützt, keine Freunde, die sich um dich sorgen, und du lebst mit gefälschten Papieren. Das hat er mir alles selbst erzählt. Ich fürchte, mein Sohn, er hat ›die Kraniche in ihrem Nest eingeschlossen‹.«
Die Bedeutung von Kishikawa-sans Worten dämmerte Nikolai erst allmählich. All die Zeit, all die Mühe, die er auf den Versuch verwandt hatte, Kontakt mit dem General aufzunehmen, sein ganzer verzweifelter Kampf gegen behördliche Indifferenz hatten letztlich nur zur Folge, dass dem General der Schutzpanzer des Schweigens geraubt wurde. Er war kein Trost für Kishikawa-san; er war eine Waffe gegen ihn. Nikolai empfand eine Mischung aus Zorn, Scham, Empörung, Selbstmitleid und Kummer.
Um die Augen des Generals spielte ein müdes Lächeln. »Es ist nicht deine Schuld, Nikko. Und auch nicht die meine. Es ist eben Schicksal. Pech. Wir wollen nicht mehr davon reden. Wenn du wiederkommst, spielen wir weiter, und ich verspreche dir, ein besserer Gegner zu sein.«
Der General erhob sich und ging zur Tür, wo er stehen blieb, um sich von dem japanischen und dem russischen Wärter hinausführen zu lassen, die ihn aber warten ließen, bis Nikolai dem amerikanischen Militärpolizisten zunickte, der wiederum seinen Kollegen ein zustimmendes Zeichen gab. Eine Zeit lang blieb Nikolai wie benommen sitzen und löste mit dem Fingernagel mechanisch die Metallsteine von dem magnetischen Brett.
Der amerikanische Sergeant kam herüber und fragte ihn in vertraulichem Ton: »Na? Haben Sie herausgefunden, was Sie wissen wollten?«
»Nein«, antwortete Nikolai geistesabwesend. Und dann setzte er hinzu: »Nein, aber wir werden uns noch einmal unterhalten.«
»Wollen Sie ihn wieder mit diesem albernen Gook- Spiel einseifen?«
Nikolai warf dem Sergeant aus seinen grünen Augen einen eiskalten Blick zu.
Voller Unbehagen erklärte der Militärpolizist begütigend: »Ich meine … Na ja, das ist doch bloß so ’ne Art Schach oder Dame oder so, nicht wahr?«
In der Absicht, diesem Proleten einen gehörigen Denkzettel zu erteilen und ihn seine Geringschätzung für die westliche Zivilisation spüren zu lassen, antwortete Nikolai: »Go ist im Verhältnis zum Schach des Westens, was die Philosophie im Verhältnis zu doppelter Buchführung ist.«
Aber Beschränktheit ist ein wirksamer Schutz sowohl gegen Belehrung als auch gegen Strafe. Die Antwort des Sergeants lautete schlicht und naiv: »Ohne Scheiß?«
Ein nadelfeiner Regen stach Nikolai in die Wange, als er von der Brücke der Morgendämmerung zu der grauen Mauer der Ichigaya-Kaserne hinüberstarrte, deren Umrisse vom Nebel verwischt, aber nicht gemildert wurden und deren von mattgelbem Licht erhellte Fensterreihen erkennen
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