Shibumi: Thriller (German Edition)
ließen, dass die japanischen Kriegsverbrecherprozesse ihren Fortgang nahmen.
Er stand an das Geländer gelehnt, den Blick ins Leere gerichtet, während ihm der Regen aus den Haaren übers Gesicht und in den Nacken lief. Sein erster Impuls beim Verlassen des Sugamo-Gefängnisses war gewesen, Captain Thomas gegen die Russen und gegen Oberst Gorbatows emotionale Erpressung um Hilfe zu bitten. Doch als ihm der Gedanke kam, hatte er gleichzeitig erkannt, wie sinnlos es wäre, sich an die Amerikaner zu wenden, deren Einstellung und Absichten hinsichtlich der Behandlung japanischer Militärs und Politiker sich grundsätzlich mit denen der Sowjets deckten. Nachdem er aus der Straßenbahn ausgestiegen und ziellos im Regen umhergewandert war, hatte er hier auf der Brücke haltgemacht, um eine Weile ins Wasser zu starren und seine Gedanken zu ordnen. Das war vor einer halben Stunde gewesen, doch immer noch war er von dem in ihm kochendem Zorn und seiner entnervenden Hilflosigkeit wie gelähmt.
Obgleich sein Zorn der Liebe zu seinem Freund und der Sohnespflicht ihm gegenüber entsprang, war er im Grunde doch von Selbstmitleid bestimmt. Es war entsetzlich, dass er das Werkzeug sein sollte, mit dem Gorbatow Kishikawa-san die Würde des Schweigens rauben wollte. Diese Ungerechtigkeit war in ihrer Ironie einfach ungeheuerlich. Nikolai war jung und glaubte noch immer, die grundlegende Triebfeder des Schicksals sei die Gerechtigkeit; dass Karma ein System sei, nicht einfach nur ein ausgeklügelter Kunstgriff.
Als er so im Regen auf der Brücke stand und in bittersüßes Selbstmitleid hinabglitt, da war es nur natürlich, dass ihm der Gedanke an Selbstmord kam. Die Vorstellung, Gorbatow seiner wirksamsten Waffe zu berauben, war tröstlich, bis er einsah, dass es eine leere Geste sein würde. Bestimmt würde man Kishikawa-san von seinem Tod nicht in Kenntnis setzen, sondern ihm sagen, man habe Nikolai als Geisel in Haft genommen, um die Kooperation des Generals zu garantieren. Erst später, wenn Kishikawa-san sich mit Geständnissen, die andere Menschen belasteten, entehrt hatte, würde man ihm die grausame Wahrheit sagen: Man würde ihm mitteilen, dass Nikolai schon lange tot sei und dass er, Kishikawa, sich selber entehrt und unschuldige Freunde sinnlos in Gefahr gebracht habe.
Der Wind peitschte ihm in Stößen entgegen und trieb ihm den Regen ins Gesicht. Nikolai geriet ins Schwanken und suchte am Geländer Halt, so sehr brandeten die Wogen der Hilflosigkeit gegen ihn. Und dann erinnerte er sich mit unwillkürlichem Erschauern an einen furchtbaren Gedanken, der ihm während des Gesprächs mit dem General gekommen war. Kishikawa-san hatte ihm von seinem Versuch erzählt, in den Hungerstreik zu treten, und von der furchtbaren Demütigung, die man ihm zugefügt hatte, als man ihm einen Schlauch durch die sich ständig verkrampfende Speiseröhre zwang, um ihn auf diese Weise zu ernähren. In jenem Augenblick hatte sich Nikolai der Gedanke aufgedrängt, dass er, wäre er Zeuge dieser Demütigung gewesen, die Hand ausgestreckt und dem General zur Flucht in den Tod verholfen hätte. Die Ausweiskarte aus Plastik in Nikolais Tasche, im hoda-korosu -Kampfstil verwendet, hätte als Waffe durchaus genügt. Das Ganze wäre in einer Sekunde vorüber gewesen.
Die Vorstellung, Kishikawa-san aus dem Gefängnis seines elenden Lebens zu befreien, war Nikolai kaum durch den Kopf geschossen, als er sie auch schon weit von sich wies, weil sie ihm doch allzu schrecklich vorkam. Jetzt aber, hier im Regen, angesichts jener Maschinerie der Vergeltung, der Kriegsverbrecherprozesse, kehrte der Gedanke zurück, und dieses Mal setzte er sich fest. Es war natürlich besonders bitter, dass das Schicksal von ihm verlangte, ausgerechnet den einzigen Menschen zu töten, der ihm nahestand. 1 Ein ehrenvoller Tod war jedoch das einzige Geschenk, das er seinem Freund zu bieten hatte. Und er erinnerte sich an die uralte Weisheit: Wer muss die schweren Dinge tun? Der, der es kann. Diese Tat würde natürlich Nikolais letzte sein. Er würde die ganze Wut und Enttäuschung der Sieger auf sich herabbeschwören, und sie würden ihn strafen. Ein Selbstmord wäre wesentlich einfacher für Nikolai als der Plan, den General eigenhändig zu erlösen. Aber er wäre auch völlig sinnlos – und selbstsüchtig.
Als er im Regen zur U-Bahn-Station ging, verspürte Nikolai einen eiskalten Klumpen im Magen, war aber sonst völlig gelassen. Endlich sah er seinen Weg!
In jener Nacht
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