Shimmer
Vaters waren.
»Komm schon.« Grace gab nach. Sie nahm Claudias Hand und führte sie die Treppe hinauf ins Kinderzimmer, einen kleinen, bezaubernden Raum in Blassblau, der voller Kuscheltiere war.
»Oh, Grace«, sagte Claudia gerührt, als sie den Jungen sah. »Er ist wundervoll!«
Und das war Joshua Jude Becket in der Tat, der Säugling, dessen Wangen die Farbe von Cappuccino besaßen und auf denen sich niedliche Grübchen bildeten, wann immer er lachte. Joshua war inmitten von Chaos und Tragödie geboren, doch nun hatte er sich zu einem gesunden, fröhlichen und neugierigen Wonneproppen entwickelt.
Sanft streichelte seine Tante ihm über das dunkle Haar. »Ich wecke ihn schon nicht auf.«
»Mach ruhig noch ein wenig«, flüsterte Grace dankbar. »So haben wir Gelegenheit, einfach wir selbst zu sein.« Sie legte ihrer Schwester den Arm um die schmalen Schultern. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass du hier bist.«
Doch wenn Grace ehrlich zu sich selbst war, hegte sie gemischte Gefühle, was Claudias plötzliche Ankunft betraf. Ohne Frage empfand sie eine geradezu überwältigende Freude, ihre Schwester wieder an ihrer Seite zu haben; aber sie wusste auch, dass sie gezögert hätte, eine Einladung auszusprechen, hätte Claudia sie im Vorfeld gefragt. Grace war gerade dabei, ihre Rückkehr ins Arbeitsleben zu organisieren, und das brachte eine ganze Reihe von Komplikationen mit sich, zumal sie – wenn auch nur kurz – unter postnataler Depression gelitten hatte.
»Und dann ist da noch der posttraumatische Stress«, hatte ihr Schwiegervater vor ein paar Monaten diagnostiziert.
Dr. David Becket war Sams Adoptivvater, ein dreiundsechzigjähriger kaukasischer Jude, der heutzutage kaum mehr als eins siebzig maß – er »schrumpfe« ständig, behauptete er –, doch sein ein Meter neunzig großer Sohn schaute noch immer zu ihm auf und vertraute ihm mehr als jedem anderen Menschen. Dr. Becket war ein kluger, humorvoller und gütiger Mann; für Grace war er mehr Vater gewesen, als ihr eigener Daddy es je gewesen war. Und obwohl Becket Kinderarzt war, kein Psychiater, und noch dazu kurz vor der Rente stand, hörte Grace mehr auf ihn als auf jeden anderen Mediziner – selbst wenn sie auf den Rat der Chefärzte vom Mount Sinai und dem Jackson Memorial hätte zurückgreifen können.
»Du hast ein Recht darauf, so zu empfinden«, hatte er zu ihr gesagt, als sie ihm zum ersten Mal ihr Gefühl der Unzulänglichkeit gestanden hatte. »Und damit bist du nicht allein«, hatte er hinzugefügt. »Es ist schwer, sich zu freuen oder auch nur optimistisch zu sein, wenn zwei junge Leute in deiner Familie trauern.«
Trotzdem hatte Grace sich für ihre Depressionen geschämt, die sie ziemlich aus der Bahn geworfen hatten – und das in einer Zeit, in der ihre Kompetenz gefragt war und sie eigentlich dankbar hätte sein müssen. Zugleich wusste sie, wie unsinnig es war, sich für ihre Depressionen zu schämen; schließlich war auch sie Psychologin, wenn auch für Kinder und Jugendliche.
Sie hätte es besser wissen müssen .
Aber wenn der Seelenklempner selbst auf der Couch liegt, ist mit einem Mal alles anders.
Doch Grace hatte auch aus einem anderen Grund gemischte Gefühle: Seit Monaten machte sie sich nun schon Sorgen um Claudia. Sie wusste, dass bei ihrer Schwester nicht alles so war, wie es sein sollte. Ein paar Mal hatte sie sogar darüber nachgedacht, mit Joshua nach Seattle zu fliegen, um dort nach dem Rechten zu sehen. Doch jedes Mal hatte Grace einen Grund gefunden, die Reise zu ihrer Schwester dann doch nicht anzutreten.
Und jetzt war Claudia hier, ohne Vorwarnung und mit zwei großen Reisetaschen. Und wichtiger noch: ohne Ehemann und ihre beiden Söhne.
Irgendetwas stimmte hier nicht.
Ganz und gar nicht.
3
Die Ermittlungen waren angelaufen.
Das Ruderboot und das Opfer waren fotografiert und untersucht worden, so gut es am Fundort möglich war. Dann hatte man die Leiche zugedeckt und mitsamt Boot in die Gerichtsmedizin gebracht, wo jeder Quadratzentimeter des Bootes auf Spuren untersucht werden würde. Erst dann würde Sanders sich an die mühsame Arbeit machen, den Leichnam zu obduzieren.
Das Können des Gerichtsmediziners und seines Teams stellten die beste Chance für eine rasche Lösung des Falles dar. Das wussten Becket und Martinez nur allzu genau, zumal sie den eigentlichen Tatort nicht kannten. Sämtliches Spurenmaterial, das die Beamten und Kriminaltechniker am Strand fanden, würde mit
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