Shimmer
kaum dass der seine Nase zur Tür hereingesteckt hatte.
Aber hätte ihr Sohn auch nur einen Funken Verstand besessen, wäre sie nicht gezwungen gewesen, ihre Stieftochter gefangen zu setzen oder einen verdammten Polizeibeamten niederzuschlagen, ganz zu schweigen davon, ihr Heim zu verlassen und durch das halbe Land zu fliegen.
Sie war auf der Flucht.
Und das in ihrem Alter ...
Himmel, der Junge würde sich für eine Menge rechtfertigen müssen!
83
Grace stand kurz vor dem Zusammenbruch. Mit jeder Faser ihres Körpers sehnte sie sich danach, ihren Sohn zu suchen, selbst wenn das bedeutete, jedes Haus, jede Wohnung, jedes Geschäft und jede Lagerhalle, jede Garage und jedes Hotel in Miami durchzukämmen, in ganz Florida, im ganzen gottverdammten Land.
»Sie könnten sonst wo sein«, sagte sie den Männern und Frauen in Uniform und Zivil, die ihr Haus praktisch übernommen hatten. Ständig lief Grace herum, hinein in die Küche, raus aus der Küche, und ging im Flur auf und ab. Verzweiflung stand ihr in den Augen, und ihre Stimme klang ungewöhnlich laut und schrill, denn sie wollte, dass diese Leute ihr zuhörten, dass sie verstanden. Sie wollte da draußen sein, nicht hier drin, wo sie nichts tun konnte. »Wir brauchen Straßensperren. Wir brauchen ...«
»Wir tun, was wir können, Mrs. Becket«, sagte eine der Polizistinnen, eine Fremde in blauem Hosenanzug und mit kurzem blondem Haar und blassen Augen.
»Nein, das tun Sie nicht «, widersprach Grace ihr giftig. »Wenn es so wäre, wäre mein Baby schon wieder bei mir.«
Immer mehr Leute kamen ins Haus, doch keiner hielt Joshua auf dem Arm. Damit waren sie in Grace’ Augen nutzlos. Woody zum Tierarzt zu bringen wäre das einzig Nützliche gewesen, was diese Leute hier hätten tun können. Der Hund tat Grace leid, doch um ihn kümmerte man sich jetzt wenigstens, während ihr Sohn mit einem Ungeheuer irgendwo dort draußen war.
»Sie müssen mich ihn suchen lassen«, sagte Grace zu den Beamten.
»Genau das tun im Moment eine Menge Leute«, erwiderte ein Mann in sanftem Tonfall.
Grace erkannte ihn nicht, doch er trug die blaue Uniform von Bay Harbor. Natürlich wusste sie, dass der Mann nicht die geringste Schuld an dem trug, was sich hier abspielte; trotzdem hätte sie ihm am liebsten die Fäuste in sein freundliches, ernstes Gesicht geschlagen.
Aber er trug keine Schuld. Ebenso wenig wie die Streifenbeamten, die just in dem Augenblick nicht vor dem Haus gewesen waren, als Jerome Cooper vergiftetes Fleisch durch die Hundeklappe geschoben hatte.
Und irgendwo in ihrem zerrissenen Geist wusste Grace, dass sie selbst durchaus Schuld hatte, sie und Sam, vor allem Sam ...
Hör auf damit , ermahnte sie sich.
In Wahrheit trug nur einer die Schuld.
Warum hatte sie nur so stur darauf bestanden, allein gelassen zu werden? Warum hatte sie Saul nicht bleiben lassen, wie er ihr immer wieder angeboten hatte? Warum war sie nicht dem Impuls gefolgt und hatte Joshua mit zu sich ins Bett genommen? Warum hatte sie nicht dafür gesorgt, dass sie jede Sekunde im selben Raum verbracht hatte wie ihr unschuldiger Sohn, bis Sam wieder zurück und Cooper verhaftet war?
Grace hatte sich eingeredet, dass keine Gefahr bestehe, dass Jerome unmöglich der Doppelmörder sein könne – und falls doch, würde er nicht hierherkommen, wo man ihn mit Sicherheit verhaftet hätte.
Doch Sam war zu einem anderen Schluss gelangt. Sam – der das Böse besser kannte als sie – hatte zusätzliche Streifen angeordnet und seinen Vater und Bruder angerufen, denn er hatte gewusst, dass sie in Gefahr schwebten.
Und Grace hatte geglaubt, es besser zu wissen.
Nach wie vor kamen Leute herein. Auch David und Saul kehrten zurück.
»Gracie«, sagte David. Sie ließ sich in seine vertrauten, liebevollen Arme fallen, zog sich aber rasch wieder zurück und wischte sich energisch über die Augen. »Du bist krank. Du solltest nicht hier sein.« Sie drehte sich zu Saul um. »Du hättest es besser wissen müssen.«
»Hör auf damit«, sagte David. »Gibt es was Neues?«
Grace schüttelte den Kopf. Dann sah sie, wie blass Saul war, und erneut überkamen sie Schuldgefühle. Doch rasch schob Grace sie beiseite und konzentrierte sich wieder auf wichtigere Dinge. »Sie wollen mich nicht nach ihm suchen lassen.«
»Das ist auch richtig so«, sagte David. »Du musst hierbleiben.«
»Ich muss raus und unseren Sohn finden!«
»Du wirst hier gebraucht«, erklärte Saul, »für den Fall, dass Cooper
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