Shimmer
waren so scharf, dass sie eine Stecknadel fallen hören konnte.
Weiße Hexe.
Doch Cal hatte gelernt, leise zu sein.
79
Das Klingeln war laut genug, um Tote zu wecken.
Ein Telefon stand auf dem Nachttisch neben Grace. Das Schnurlose lag auf einem Kissen neben ihr. Grace hielt es sich ans Ohr.
»Ja?«, sagte sie, noch immer verschlafen.
»Tut mir leid, Süße«, antwortete Sams Stimme. »Ich wollte dich nicht wecken.«
»Macht nichts. Bist du am Flughafen?«
»Noch in der Luft«, sagte er. »Die Fluglinie hat die Maschine gewechselt, und wir haben Bordtelefon. Das habe ich sofort ausgenutzt.«
»Wie lange noch?«
»Gut eine Stunde.«
»Du musst völlig erschöpft sein.« Grace war nun hellwach. »Ich kann es gar nicht erwarten, bis du wieder hier bist. Wenn Joshua nicht wäre, ich würde sofort in den Wagen springen und dich abholen.«
»Wie geht es unserem prächtigen Jungen?«, fragte Sam.
»Als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, ging es ihm großartig. Ein Bild der Unschuld, du weißt schon.« Sie reckte sich. »Soll ich noch mal nach ihm sehen und ihm sagen, dass Daddy am Telefon ist?«
»Klar«, antwortete Sam.
»Dann komm mit.« Grace stieg aus dem Bett. »Ist das nicht schrecklich teuer?«
»Ungefähr fünf Trillionen pro Zeiteinheit«, sagte Sam, »aber wer zählt schon?«
Grace ging ins Kinderzimmer.
Sie wusste es, noch bevor sie Joshuas Bettchen erreicht hatte.
»O Gott.« Das Telefon fiel ihr aus der Hand.
»Grace?« Sams Stimme klang wie aus weiter Ferne.
»O Gott! «
»Grace? Was ist los, um Himmels willen?«
Die Welt kam ihr noch ferner vor als Sams Stimme. Alles drehte sich. Grace fiel auf die Knie, griff nach dem Telefon, stemmte sich wieder hoch und stürmte die Treppe hinunter – in die Küche, in die »Höhle«, zurück in den Flur und wieder die Treppe hinauf für den Fall, dass sie verrückt geworden war und einen furchtbaren Fehler gemacht hatte.
»Er ist weg.«
Die Worte zerrten an ihrem Herzen.
»Sam, Joshua ist entführt worden!«
80
Das Kind lag in einem Weidenkorb, den Cal früher am Tag in einem Touristenladen in Surfside gekauft hatte. Er hatte den Korb mit einer blauen Hundeleine und einem weißen Plastikgürtel auf dem hinteren Sattel des Tandems festgemacht.
Das Baby war nun still. Es war ein süßes kleines Ding, sehr niedlich – sofern man das von braunhäutigen Babys sagen konnte –, und hatte noch nicht einmal geschrien, als der Fremde es aus dem Bettchen gehoben hatte ... bis Cal ihm die Hand auf den kleinen Mund legte. Da hatte es sogar versucht, Lärm zu machen, doch niemand hatte etwas gehört, nicht einmal der Hund, der den Schlaf der Gier geschlafen hatte. Das geschah der kleinen Ratte nur recht! Ob die Tabletten zu hoch dosiert für den Kläffer gewesen waren, wusste Cal nicht, und es war ihm auch egal. Was das Kind betraf, so hatte er mal irgendwo gelesen, dass Babys Bewegung mochten und dass Eltern ihre kreischenden Bälger manchmal mit dem Auto spazieren fuhren, um sie zum Schweigen zu bringen. Danach zu urteilen, war dieses Kind hier im Augenblick vielleicht sogar glücklich.
Cal wusste, dass die längste Fahrt seines Lebens gerade erst begonnen hatte. Er war auf der Collins geblieben, auch wenn ihm diese Straße auf dem Tandem schier endlos erschien, zumal ihm noch immer sämtliche Knochen schmerzten. Aber die Collins war leichter zu befahren als die Nebenstraßen. Außerdem war Cal davon ausgegangen, dass niemand ihn gesehen hatte – und so war es wahrscheinlich auch, sonst hätten sie ihn längst gejagt und gestellt. Doch nirgends waren Streifenwagen zu sehen, und auch sonst war an diesem Abend nicht viel los. Deshalb hatte Cal beschlossen, bis zur Dreiundsechzigsten auf der Collins zu bleiben.
Im Augenblick war sein größtes Problem – abgesehen von den Schmerzen –, dass er zu viel Zeit hatte, darüber nachzudenken, was er gerade tat.
Und darüber, was er früher am Abend getan hatte.
Denn dies alles war geplant; das war nicht zu leugnen. Er handelte mit Vorsatz. Und das bedeutete ohne jeden Zweifel, dass er tatsächlich ein schlechter, verderbter Mensch geworden war.
Am liebsten hätte er geweint, als er nun durch die warme Nacht radelte.
Sobald er diese Sache hier erledigt hatte, würde er sich wieder bestrafen müssen, diesmal mit tieferen Wunden, tiefer als alle, die er sich oder anderen je zugefügt hatte.
Ja, sobald er das erledigt hatte ...
81
In seinem Kopf schrie er nur noch. Schrie und
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