Shimmer
schrie.
Grace erging es nicht anders.
Und Sam war machtlos; er konnte bloß Anrufe aus der Luft tätigen. Seine Hände zitterten ebenso wie seine Stimme und sein Körper.
Er versuchte, die Beherrschung zu wahren. Es gelang ihm, wenn auch nur mit Mühe und Not.
Zuerst rief er bei der Polizei von Bay Harbor an, denn Joshua war in deren Bezirk entführt worden. Sam wusste, dass die Cops alles richtig machen würden; das würden sie für jedes Kind tun, besonders für den Sohn von einem der ihren. Als Erstes würden sie ein Spezialteam für Kindesentführungen hinzuziehen. Dann – wenn Jerome seinem bisherigen, bekannten Muster folgte und Lösegeld forderte – würde auch das FBI sich einschalten. Und sollte einer der Beamten, mit denen Sam sprach, auch nur ansatzweise zögern, würde Sam persönlich jeden greifbaren Spezialagenten aus dem Bett klingeln. Doch im Moment hielt er sich erst einmal an die Vorschriften.
Im Augenblick wünschte er sich nichts sehnlicher, als jede Statistik aus seinem Gedächtnis verdrängen zu können, die er je gelesen hatte, denn Tatsache war, dass vierundvierzig Prozent aller entführten Kinder in der ersten Stunde nach der Tat ermordet wurden, vierundsiebzig Prozent nach drei Stunden, einundneunzig Prozent nach vierundzwanzig Stunden und neunundneunzig Prozent nach sieben Tagen.
Die Schreie in seinem Kopf gingen weiter und weiter und wollten nicht aufhören.
Der Anruf in Bay Harbor war erledigt. Sam hatte kein Zögern w gehört, nur die Entschlossenheit zu helfen. Dann rief er Alejandro Martinez an, denn der war sein Freund und ein verdammt guter Detective – Zuständigkeitsbereich hin oder her. Wenn es galt, einen Extraschritt zu tun, würde Martinez ihn gehen.
Noch mindestens dreißig Minuten in der Luft.
Es klingelte.
Hab keine Angst, Joshua , sagte Sam im Geiste zu seinem süßen Jungen. Daddy ist unterwegs.
Martinez’ Stimme klang, als wüsste er bereits Bescheid.
»Ich habe schlechte Nachrichten«, sagte er ohne Umschweife. »Irgendjemand – Cooper, nehme ich an – hat sich Mildred geschnappt.«
Ein weiterer Riss in Sams ohnehin schon angeknackstem Herzen.
»Ich habe leider noch mehr schlechte Nachrichten, Al«, sagte er zu seinem Freund.
82
Unter den Passagieren, die gerade aus der 730 stiegen, die von Chicago O’Hare gekommen war, befand sich eine große, schlanke blonde Frau in weißem Hosenanzug. Zusammen mit den anderen ging sie durch das Terminal D des Miami International Airport.
Es war ein langer Weg. Die Frau ging an der Gepäckausgabe vorbei. Die ganze Zeit rechnete sie damit, dass plötzlich ein Uniformierter vor sie hin trat und ihr den Weg versperrte; eigentlich hatte sie das sogar schon in O’Hare erwartet. Doch bei genauerer Betrachtung ging sie davon aus, dass Becket und Claudia noch immer gefesselt waren, oder vielleicht hatte sie ihn härter getroffen, als sie beabsichtigt hatte. Möglicherweise löste ihre Art von Verbrechen nicht die Art von Fahndung aus, wie man sie oft im Fernsehen sah. Oder die Polizei in Melrose Park und Cook County war einfach nur schlampig.
Dabei war auch sie schlampig gewesen, denn sie hatte das Ticket mit ihrer MasterCard bezahlt. Andererseits hätte sie vermutlich noch mehr Aufmerksamkeit erregt, hätte sie bar bezahlt, und nachdem sie die Karte nun schon mal benutzt hatte, konnte sie damit genauso gut Geld am Automaten ziehen. Natürlich hieß das, dass sie spätestens morgen früh wissen würden, wo sie war – nämlich in Miami –, aber darüber konnte sie sich dann immer noch Gedanken machen.
Nachdem sie Jerome gefunden hatte.
Wäre Claudia nicht plötzlich in Melrose Park aufgetaucht, um ihr und Frank von seinen dämlichen Erpressungsversuchen zu erzählen, sie hätte sich vielleicht nie wieder auf die Suche nach ihm gemacht, geschweige denn versucht, seine erbärmliche Haut zu retten.
So aber war es höchste Zeit, dass sie, seine Mutter, ihn fand und diesem Blödsinn ein Ende machte, bevor er ernsthaft in Schwierigkeiten kam und wieder im Knast endete.
Offenbar hatte jeder Mensch seinen Zweck, selbst eine dämliche ältere Stieftochter.
Frank hatte immer gesagt, Claudia sei die schwächere der beiden Schwestern.
Andererseits hatte Claudia – im Unterschied zu Grace – wenigstens einen ordentlichen Mann geheiratet.
Jeromes Verachtung für Samuel Becket konnte sie verstehen. Und zum Glück schien der schwarze Jude kein sonderlich guter Cop zu sein, sonst hätte er Jerome seine Rechte vorgelesen,
Weitere Kostenlose Bücher