Shining Girls (German Edition)
Kofferdeckel auf, wie bei einer übergroßen Frühstücksbox aus der Schule, und hat all ihre Spielsachen vor sich. Eine Babypuppe, die sie eigentlich nie gewollt hatte, aber alle Mädchen in der Schule hatten eine. Barbies und ihre Billigkopie-Cousinen in sämtlichen Stadien irgendwelcher Karrieren. Von Businessfrauen mit rosa Aktentaschen bis zur Meerjungfrau. Keine von ihnen hat Schuhe. Der Hälfte fehlt ein Arm oder ein Bein. Die Puppe mit der Wendeperücke, nackt, ein Roboter, der sich in ein Ufo verwandeln konnte, ein Killerwal auf einem Lastwagenanhänger, auf dem das Logo von Sea World gemalt ist, eine Holzpuppe mit Selbermachhaaren aus Wolle, die zu roten Zöpfen geflochten sind, Prinzessin Leia in ihrem weißen Schneeanzug und Evil Lyn mit der goldenen Haut. Es gab nie genügend Mädchen zum Spielen.
Und da – unter einem halb gebauten Lego-Turm, der mit Bleiguss-Indianerhelden bemannt ist, auch von ihrer Großmutter – ist ein Plastikpony. Seine goldene Mähne ist mit etwas Eingetrocknetem verklebt. Vermutlich Saft. Aber es hat noch dieselben traurigen Augen und das dümmliche, melancholische Lächeln und die Schmetterlinge auf dem Hintern.
«Mein Gott», stößt Kirby hervor.
«Da ist es, na gut.» Rachel rutscht ungeduldig auf der Treppe herum. «Und jetzt?»
«
Er
hat es mir gegeben.»
«Ich hätte dich den Joint nicht rauchen lassen sollen. Du bist das nicht gewohnt.»
«Hör mir doch mal zu», schreit Kirby. «
Er
hat es mir gegeben. Der Arsch, der versucht hat, mich umzubringen.»
«Du weißt ja nicht, was du da sagst!», kreischt Rachel verwirrt und erschrocken zurück.
«Wie alt bin ich auf diesem Foto?»
«Sieben? Acht?»
Kirby sieht das Jahr auf der Karte nach: 1976 . Da war sie neun. Aber sie war jünger, als er es ihr gegeben hat. «In Mathe bist du echt eine Null, Mom.» Sie kann es nicht fassen, dass sie all diese Jahre nicht an das Pony gedacht hat.
Sie dreht es um. Unter den Hufen sind Großbuchstaben eingeprägt. MADE IN HONG KONG . PAT PENDING . HASBRO 1982 .
Ihr wird eiskalt. Das statische Rauschen des Joints dreht die Lautstärke auf, sirrt in ihrem Kopf. Sie geht zur Treppe und setzt sich dicht unterhalb von Rachel auf eine Stufe. Sie nimmt die Hand ihrer Mutter und presst sie auf ihr Gesicht. Ihre Adern heben sich wie blaue Flussläufe zwischen den zart schraffierten Hautfalten und ersten Altersflecken ab. Sie wird alt, denkt Kirby, und das ist irgendwie noch unerträglicher als das Plastikpony.
«Ich hab Angst, Mom.»
«Wir haben alle Angst», sagt Rachel. Sie zieht Kirbys Kopf an ihre Brust und reibt ihr den Rücken, während Kirbys ganzer Körper vor Schmerzen rast und bebt. «Schsch. Das ist in Ordnung so, Honey. Es ist okay. Das ist das große Geheimnis, weißt du das denn nicht? Alle haben Angst. Immer.»
Harper
28 . Mai 1987
Zuerst Catherine, dann Alice. Er hat gegen die Regeln verstoßen. Er hätte Etta das Armband nie geben sollen. Er spürt, dass ihm die Kontrolle wegrutscht, wie die Achse eines Transporters vom Wagenheber.
Es ist nur noch ein Name übrig. Er weiß nicht, was danach passieren wird. Aber er muss es ordentlich machen. So, wie es sich gehört. Er muss alles wieder ins rechte Lot bringen, die Konstellationen ausrichten. Er muss auf das Haus vertrauen. Darf ihm keinen Widerstand mehr leisten.
Er versucht, nichts zu erzwingen, als er die Tür öffnet. Er lässt sie in die Zeit aufgehen, wo es anfangen soll: 1987 . Er sucht den Weg zur Grundschule, wo er sich unter die Eltern und Lehrer mischt, die zwischen den Tischen in der Eingangshalle umherschlendern. Darüber hängt ein Banner mit der Aufschrift «Willkommen zum Wissenschaftstag!». Er geht an einem Pappmachévulkan vorbei, an Kabeln und Krokodilklemmen auf einer Holztafel, an der eine elektrische Birne aufleuchtet, wenn man die Kabel miteinander verbindet, an Plakaten, auf denen dargestellt wird, wie hoch ein Floh springen kann und welchen aerodynamischen Gesetzen ein Düsenflugzeug gehorcht.
Kurz wird er von einer Sternenkarte angezogen, echten Konstellationen. Der kleine Junge hinter dem Tisch fängt an, schüchtern und monoton den Text von einem Blatt vorzulesen. «Sterne bestehen aus Zusammenballungen von Leuchtgasen. Sie sind sehr weit entfernt, und manchmal ist der Stern, wenn uns sein Licht erreicht, schon erloschen, und wir wissen es nicht einmal. Ich habe auch ein Teleskop …»
«Halt den Mund», sagt Harper. Der Junge sieht aus, als würde er gleich in Tränen
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