Shining Girls (German Edition)
Zigarettenpapier aus der Hosentasche.
«Führ mich nicht in Versuchung», sagt Kirby. Es klingt gehässiger, als sie beabsichtigt hat, aber Rachel bekommt es nicht mit. «Wenn wir schlau wären, würden wir einen Tisch für einen Privatflohmarkt aufstellen und gleich alles aus den Kartons draufstellen.»
«Es wäre mir lieber, wenn du dich nicht durch dieses ganze Zeug wühlst.» Rachel seufzt. «Es ist so viel einfacher, damit zu leben, wenn es weggepackt ist.» Sie reißt den Filter von einer Zigarette ab und streut zu gleichen Teilen Tabak und Marihuana auf ihr Zigarettenpapier.
«Hörst du eigentlich selbst, was du da sagst, Mom?»
«Spiel nicht die Therapeutin. Das passt nicht zu dir.» Sie zündet den Joint an und streckt ihn Kirby abwesend hin. «Oh, sorry, hatte ich vergessen.»
«Schon gut», sagt Kirby und nimmt einen Zug. Sie hält ihn in der Lunge, bis ihr Kopf von einem wohligen, statischen Griesel ausgefüllt ist, wie bei einer Bildstörung im Fernsehen. Falls sich eine Bildstörung als Sumpf entpuppen könnte, durch den verschlüsselte Signale von der CIA übertragen werden. Kirby hat Marihuana nie so gut vertragen wie ihre Mutter. Gewöhnlich wird sie davon paranoid und fängt an, alles zu analysieren. Andererseits hat sie sich noch nie zusammen mit ihrer Mom bekifft. Vielleicht hat sie all die Jahre etwas falsch gemacht und irgendein geheimes Mutter-Tochter-Wissen verpasst, das ihr schon vor Jahren hätte weitergegeben werden sollen, wie einen Zopf zu flechten oder Jungs im Ungewissen zu lassen.
«Hast du immer noch Redaktionsverbot bei der Zeitung?»
«Ich bin auf Bewährung. Sie lassen mich eine Liste mit College-Sportwettbewerben zusammenstellen, aber ich darf nicht in die Redaktion, bevor ich nicht meine Seminararbeiten geschrieben habe.»
«Sie kümmern sich um dich, das ist doch nett.»
«Sie behandeln mich wie ein Kind, verdammt.»
Rachel zerrt Weihnachtsbaumschmuck aus einem Karton, in dem sich ein paar alte Brettspielfiguren und ein siebenarmiger Kerzenleuchter verfangen haben. Bunte Plastik-Ludofiguren fliegen über den Rasen.
«Weißt du eigentlich, dass wir nie eine Bat-Mitzwa für dich gemacht haben? Hättest du gern eine Bat-Mitzwa?»
«Nein, Mom. Dafür ist es zu spät», sagt Kirby und zieht das Klebeband vom nächsten Karton. Es hat im Lauf der Jahre seine Klebekraft verloren, macht aber trotzdem noch ein schrecklich reißendes Geräusch. Bilderbücher und Comics,
Wo die wilden Kerle wohnen
, eine Märchensammlung von Roald Dahl.
«Die habe ich für dich aufgehoben, falls du mal Kinder hast.»
«Ziemlich unwahrscheinlich.»
«Das weiß man nie. Du warst ja auch nicht geplant. Du hast deinem Dad immer Briefe geschrieben. Weißt du das noch?»
«Was?» Kirby kämpft gegen das Dröhnen in ihrem Kopf. Ihre Kindheit scheint sich immer vor ihr zurückzuziehen. Die Erinnerungen sind streng geordnet. All dieser Krimskrams, den man ansammelt, um das Vergessen abzuwehren.
«Ich habe sie natürlich weggeworfen.»
«Warum hast du das gemacht?»
«Sei nicht albern. Wohin hätte ich sie denn schicken sollen? Da hättest du genauso gut an den Weihnachtsmann schreiben können.»
«Ich habe eine ganze Weile geglaubt, So-John wäre mein Dad. Du weißt schon. Peter Collier. Ich habe ihn sogar gesucht und auch aufgestöbert.»
«Ich weiß, das hat er mir erzählt. Oh, sei nicht so überrascht. Wir sind in Kontakt geblieben. Er sagte, du bist zu ihm gegangen, als du sechzehn warst, und hättest ihn wahnsinnig beeindruckt. Hättest einen Vaterschaftstest verlangt und darauf bestanden, dass er Unterhalt zahlt.»
In Wahrheit, erinnert sich Kirby, war sie fünfzehn. Sie hatte herausgefunden, wer er war, als sie die in winzige Schnipsel zerrissene Kurzbiographie aus einer Illustrierten wieder zusammengesetzt hatte. Die Schnipsel hatte Kirby in Rachels Papierkorb entdeckt, nachdem ihre Mom einen rekordverdächtig monumentalen, dreitägigen Heulanfall erlitten hatte, bei dem auch eine Menge Geschirr draufgegangen war.
Peter Collier war das Kreativgenie einer großen Werbeagentur aus Chicago, jedenfalls der Lobeshymne in der Zeitschrift zufolge, er hatte während dreier Jahrzehnte bahnbrechende Kampagnen ausgearbeitet, war seiner Frau, die tragischerweise unter multipler Sklerose litt, ein liebender Ehemann und, was der Artikel
nicht
erwähnte, ein Motherfucker (im wörtlichen Sinne) sondergleichen, der im größten Teil von Kirbys Kindheit herumgegeistert war.
Sie hatte seine Sekretärin
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