Shining Girls (German Edition)
ausbrechen. Er starrt mit zitternder Unterlippe vor sich hin, dann flüchtet er in die Menschenmenge. Harper bekommt es kaum mit. Er verfolgt mit der Fingerspitze gebannt die Linien, die zwischen den Sternen gezogen sind. Großer Wagen. Kleiner Wagen. Großer Bär. Der Orion mit seinem Gürtel und seinem Schwert. Aber sie könnten genauso gut etwas anderes darstellen, wenn man die Sternenpunkte anders verbindet. Und wer hat überhaupt das Recht zu sagen, es wäre ein Bär oder ein Krieger? Für ihn sehen die Sternbilder verdammt noch mal überhaupt nicht danach aus. Wir sehen Muster, weil wir danach suchen. Ein verzweifelter Versuch, eine Ordnung herzustellen, weil wir nicht mit der grausamen Vorstellung leben können, dass alles Zufall ist. Er fühlt sich losgelöst nach dieser Erkenntnis. Er hat den Eindruck, die Bodenhaftung zu verlieren, als wäre die ganze verdammte Erdumdrehung ins Stottern geraten.
Eine junge Lehrerin mit blondem Pferdeschwanz nimmt ihn sanft am Arm. «Ist alles in Ordnung mit Ihnen?», sagt sie in freundlichem Ton, der normalerweise für Kleinkinder reserviert ist.
«Nein …», fängt Harper an.
«Finden Sie den Projekttisch Ihres Kindes nicht?» Der pummelige Junge steht schniefend neben ihr und klammert sich mit einer Hand an ihren Rock. Harper hält sich an der Realität dieses Anblicks fest, an der Art, wie sich der Junge die Nase am Ärmel abwischt und einen Rotzstreifen auf dem dunklen Stoff hinterlässt.
«Mysha Pathan», sagt er, als wäre er aus einem Traum aufgewacht.
«Und Sie sind ihr …?»
«Onkel», sagt er und greift damit zu einer Erklärung, die immer so gut funktioniert hat.
«Oh.» Die Lehrerin ist verblüfft. «Ich wusste nicht, dass sie in den Staaten Familie hat.» Sie mustert ihn erstaunt. «Sie ist eine sehr vielversprechende Schülerin. Sie finden ihren Projekttisch beim Podium neben der Tür.» Hilfsbereit deutet sie in die Richtung.
«Danke», sagt Harper und reißt sich von der Sternenkarte los, die nichts weiter ist als ein nutzloser Fetisch.
Mysha ist ein kleines braunhäutiges Mädchen mit genügend Metall für eine Spielzeugeisenbahn im Mund. Es erinnert Harper an die Konstruktion, die seinen Kiefer zusammengehalten hat. Sie wippt ein bisschen auf ihren Absätzen, scheint sich dessen aber nicht bewusst zu sein, wie sie so vor einem Tisch steht, auf dem Kakteen aufgereiht stehen, dahinter ein Plakat mit Nummern und Farben, die Harper nichts sagen, obwohl er das Plakat sehr sorgfältig betrachtet.
«Hi! Soll ich Ihnen mein Projekt erklären?», sagt sie mit sprühender Begeisterung.
«Ich bin Harper», sagt er.
«Okay!», sagt sie strahlend. Das gehört nicht in ihr Drehbuch und bringt sie aus dem Rhythmus. «Ich bin Mysha, und das ist mein Projekt. Hm. Wie Sie sehen, züchte ich Kakteen in, mmh, unterschiedlichen Erdarten mit wechselndem Säuregehalt.»
«Der hier ist tot.»
«Ja. Ich habe herausgefunden, dass manche Bodenbedingungen für Kakteen sehr schlecht sind. Das können Sie auf diesem Diagramm hier sehen, auf dem ich die Ergebnisse verzeichne.»
«Ich sehe es.»
«Die vertikale Achse steht für den Säuregehalt des Bodens und die horizontale …»
«Tust du mir einen Gefallen, Mysha?»
«Hm.»
«Ich komme zurück. Auf der Stelle. Sobald ich kann. Aber dir wird es nicht so vorkommen. Du musst etwas für mich tun, während ich weg bin. Es ist sehr wichtig. Hör nicht auf zu leuchten.»
«Okay!», sagt sie.
Zurück in dem Haus ist es, als würden alle Gegenstände in seinem Kopf brennen. Er kann immer noch ihre Flugbahnen nachverfolgen, aber zum ersten Mal erkennt er, dass die Karte nirgendwohin führt. Sie schließt mit sich selbst ab. Eine Schlaufe, der er nicht entkommen kann. Das Einzige, was ihm übrig bleibt, ist, sich ihr zu unterwerfen.
Harper
12 . Juni 1993
Er tritt in den frühen Morgen des 12 . Juni 1993 hinaus, das Datum steht groß im Fenster des Postamtes. Es ist erst drei Tage her, seit er Catherine getötet hat. Er geht bis an die Grenze. Er weiß schon, wo er Mysha Pathan finden wird. Es steht klar und deutlich auf das letzte Totem gedruckt. Milkwood Pharmaceuticals.
Die Firma ist am anderen Ende der Stadt, mitten in der West Side. Ein langgestrecktes, plumpes graues Gebäude. Er sitzt am Fenster einer Pizzeria im Einkaufszentrum gegenüber und pickt am fadenziehenden Käse seiner Pizza herum, während er wartet und beobachtet: wie der Parkplatz, typisch für einen Samstagabend, beinahe leer ist, wie der
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