Shining Girls (German Edition)
Übertriebenes – fahr zu oft zu große Gewinne ein, und du lenkst unerwünschte Aufmerksamkeit auf dich, denkt Harper, ganz besonders in der Stadt Al Capones.
Jedem Wettschein entspricht ein Eintrag in dem schwarzen Kontobuch, die Summe, das Datum und die Herkunft sind säuberlich in Großbuchstaben vermerkt. Alle sind auf der Gewinnseite aufgelistet, 50 Dollar hier, 1200 Dollar dort. Bis auf einen Eintrag. Eine Adresse. Die Hausnummer 1818 steht neben der rot eingetragenen Summe von 600 Dollar. Er sucht in dem Kontobuch nach dem entsprechenden Dokument. Der Besitzurkunde für das Haus. Es ist auf Bartek Krol eingetragen, 5 . April 1930 .
Harper setzt sich auf die Fersen zurück und lässt ein Bündel Zehner über den Daumen schnellen. Vielleicht ist
er
der Verrückte. Aber so oder so hat er etwas Außergewöhnliches entdeckt. Es erklärt, warum Mr. Bartek zu beschäftigt war, um ordentliche Lebensmittel zu kaufen. Pech, dass seine Gewinnsträhne so abgekürzt wurde. Glück für Harper. Er ist selbst ein Spieler.
Er wirft einen Blick auf den Schlamassel im Flur. Er wird etwas unternehmen müssen, bevor es sich zu Brei zersetzt. Wenn er wiederkommt. Es juckt ihn, hinauszugehen. Nachzusehen, ob er recht hat.
Nachdem er auf der Toilette war, zieht er die Sachen an, die er im Schrank findet. Ein Paar schwarzer Schuhe. Blaue Arbeiterjeans. Ein geknöpftes Hemd. Er schaut wieder zu der Wand mit den Gegenständen, um sich zu vergewissern. Die Luft um das Plastikpferd scheint zu zucken und zu vibrieren. Einer der Mädchennamen ist deutlicher lesbar als die übrigen. Er glüht förmlich. Sie wartet auf ihn. Dort draußen.
Unten an der Treppe bleibt er hinter der Eingangstür stehen und schüttelt nervös die rechte Hand aus, wie ein Boxer, der sich für einen Schlag aufwärmt. Er hat den Gegenstand im Sinn. Er hat dreimal überprüft, dass er den Schlüssel in der Tasche hat. Er ist jetzt bereit, denkt er. Er glaubt zu wissen, wie es funktioniert. Er wird sein wie Mr. Bartek. Zurückhaltend. Abgefeimt. Er wird nicht zu weit gehen.
Er streckt die Hand nach dem Griff aus. Die Tür schwingt in blitzendes Licht auf, so grell wie ein Feuerwerksknaller, der in einem dunklen Keller die Eingeweide einer Katze aufreißt.
Und Harper tritt in eine andere Zeit hinaus.
Kirby
3 . Januar 1992
«Du solltest dir wieder einen Hund zulegen», sagt ihre Mutter. Sie sitzt auf der Mauer und sieht auf den Lake Michigan und den reifbedeckten Strand hinaus. Ihr Atem kondensiert vor ihr in der Luft wie die Sprechblasen aus einem Comic. Im Wetterbericht haben sie mehr Schnee angekündigt, aber der Himmel spielt nicht mit.
«Nö», sagt Kirby leichthin. «Und überhaupt, was soll mir ein Hund nutzen?» Gedankenverloren nimmt sie Zweige in die Hand und bricht sie in immer kleinere Stücke, bis sie sich nicht mehr zerbrechen lassen. Nichts ist unendlich reduzierbar. Man kann ein Atom spalten, aber man kann es nicht auflösen. Das Zeug bleibt da. Es hängt sich an einen, selbst wenn es zerbrochen ist. Wie eine Eierschale. Irgendwann muss man die Teile einsammeln. Oder weggehen. Nicht zurückschauen.
«Oh, Honey.» In Rachels Stimme liegt dieses Seufzen, das Kirby nicht leiden kann und sie dazu provoziert, es weiter zu treiben, immer weiter.
«Sie sind haarig, stinken und springen ständig an einem hoch, um einem das Gesicht abzulecken. Ekelhaft!» Kirby schneidet eine Grimasse. Am Ende bleiben sie immer in der gleichen Gesprächsschleife stecken. Verachtenswert vertraut, aber auf eine bestimmte Art auch beruhigend.
Sie hat eine Zeitlang versucht wegzulaufen, nachdem es passiert war. Hat ihr Studium geschmissen – obwohl sie ihr mitleidig eine Freistellung angeboten haben –, hat ihr Auto verkauft, ihre Sachen gepackt und sich auf den Weg gemacht. Weit ist sie nicht gekommen. Obwohl ihr Kalifornien so fremd und seltsam erschien wie Japan. Wie etwas aus einer Fernsehshow, aber mit asynchronem Publikumsgelächter vom Band. Oder es lag an ihr; zu düster und zu abgefuckt für San Diego und nicht abgefuckt genug, oder auf die falsche Art, für Los Angeles. Sie hätte bedauernswert zerbrechlich sein sollen, nicht gebrochen. Man muss die Schnitte selber setzen, um den inneren Schmerz herauszulassen. Sich von jemand anderem aufschlitzen zu lassen ist Mogelei.
Sie hätte weiterziehen sollen, nach Seattle oder New York. Aber sie ist wieder dort gelandet, wo sie losgefahren ist. Vielleicht lag es an den ständigen Umzügen in ihrer
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