Shining Girls (German Edition)
Kälte gefühllosen Fingern in den Schnee fallen. Ihr voreingestellter Wert im Dasein ist nämlich Abwesenheit.
Mal
29 . April 1988
Malcolm sieht den weißen Typen sofort. Nicht dass Melaninmangel in dieser Gegend komplett außergewöhnlich wäre. Aber normalerweise sitzen sie im Auto und halten kaum lange genug an, um sich ihren Stoff zu kaufen. Und es gibt auch welche, die zu Fuß unterwegs sind, von den abgewrackten Junkies mit ihren gelben Augen und den zitternden Händen wie bei alten Leuten bis zur jungen Anwältin im teuren Kostüm, die von Downtown raufkommt, um zusammen mit den anderen geduldig jeden Dienstag und in letzter Zeit auch jeden Samstag auf die Lieferung zu warten. In dieser Hinsicht macht die Straße alle gleich. Aber diese Leute hängen danach eigentlich nicht weiter in der Gegend rum.
Dieser Mann steht einfach so auf der Treppe des verlassenen Hauses und sieht aus, als wäre er der Besitzer dieser Bruchbude. Kann auch sein. Die Leute sagen, dass Cabrini gentrifiziert werden soll, aber man müsste schon ein ziemlich durchgeknallter Wichser sein, wenn man diesen Scheiß hier draußen in Englewood mit
diesen
runtergekommenen Dreckslöchern versuchen will.
Mal weiß nicht, warum sie sich überhaupt noch die Mühe machen, sie zu vernageln. Aus den Häusern ist schließlich schon längst jedes Leitungsrohr und jeder Messingknauf oder sonstiges viktorianisches Zeug rausgeholt worden. Zersplitterte Fensterscheiben, verrottete Holzböden und ganze Generationen von Rattenfamilien, die sich auf die Füße treten; Omi und Opi und Mami und Papi und das plärrende Rattenbaby. Also würden nur die total abgebrannten Speedjunkies versuchen, dort ihren Fixertreff einzurichten. Diese Häuser sind total abgewrackt. Und das will in dieser Nachbarschaft was heißen.
Kein Immobilienmakler, denkt er, als er beobachtet, wie der Mann von der Treppe auf den gesprungenen Beton tritt und über das verblasste Himmel-und-Hölle-Hüpfgitter schlurft. Mal hat seinen Schuss schon gehabt, der Stoff ist ihm tief in die Eingeweide gedrungen und lässt sie langsam versteinern. Also hat er heute keinen Stress mehr und alle Zeit der Welt, um zu beobachten, wie sich ein weißer Mann komisch benimmt.
Das Quarkgesicht überquert den Platz, weicht dem Gerippe einer alten Couch aus und geht unter dem verrosteten Gestell vorbei, an dem früher ein Basketballkorb hing, bis irgendwelche Kids ihn runtergerissen haben. Selbstsabotage, nichts anderes ist so was. Sich seinen eigenen Scheiß einbrocken.
Der Typ ist auch nicht von der Polizei, so, wie er angezogen ist, in ausgebeulten schwarzbraunen Hosen und einem altmodischen Sportsakko. Diese Krücke unter seinem Arm ist ein sicheres Zeichen für jemanden, der zugedröhnt am falschen Ort war und sich verletzt hat. Hat seine Krankenhauskrücke vermutlich schon ins Pfandhaus getragen, wenn er jetzt mit diesem klobigen alten Ding rumläuft. Oder vielleicht ist er auch gar nicht ins Krankenhaus gegangen, weil er was zu verbergen hat. Dieser Typ hat auf jeden Fall irgendwas Komisches an sich.
Er ist interessant. Er ist vielleicht sogar eine Chance. Könnte sein, dass sich der Typ versteckt. Mafia-Aussteiger. Verflucht, Exfrau! Wäre ein guter Ort dafür. Könnte sein, dass er in einem von diesen alten Rattennestern irgendwo Bargeld gebunkert hat. Mal späht nachdenklich zu der Häuserreihe hinüber. Er könnte ein bisschen rumschnüffeln, solange der Weiße unterwegs ist. Ihn um die Wertsachen erleichtern, die ihm Sorgen machen könnten. Ohne dass es jemand merkt. Wahrscheinlich tut er ihm sogar einen Gefallen damit.
Doch der Anblick der Häuser vermittelt Mal, während er überlegt, aus welchem der Typ wohl gekommen ist, ein seltsames Gefühl. Könnte auch an der Hitze liegen, die vom Asphalt aufsteigt und alles wabern lässt. Nicht das große Zittern, aber es ist nah dran. Er hätte so schlau sein sollen, das Zeug nicht von Toneel Roberts zu kaufen. Der Kerl raucht Angeldust-Loveleys, so viel ist sicher, und deshalb hat er garantiert auch den Stoff gestreckt. Mals Bauch verkrampft sich, als hätte ihm jemand die Faust reingerammt. Eine kleine Erinnerung daran, dass er seit vierzehn Stunden nichts gegessen hat, und ein Hinweis darauf, genau, dass das Dope verschnitten war. Mr. Chance geht die Straße runter, lächelnd und die Kinder verscheuchend, die ihm was zurufen. Mal gibt seinen Plan auf. Der war nicht gut. Jedenfalls fürs Erste. Er wartet besser, bis der Typ zurückkommt und er
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