Shining Girls (German Edition)
Kindheit. Vielleicht übt die Familie eine Anziehungskraft aus. Vielleicht musste sie einfach an den Ort des Verbrechens zurückkehren.
Nach dem Angriff gab es jede Menge Aufmerksamkeit. Die Leute vom Krankenhaus wussten nicht mehr, wo sie mit all den Blumen hinsollten, die Kirby erhielt, manchmal von vollkommen Fremden. Allerdings war die Hälfte davon Kondolenzsträuße. Niemand hatte damit gerechnet, dass sie durchkommen würde.
Die ersten fünf Wochen waren erfüllt von Hektik und Leuten, die unbedingt etwas für sie tun wollten. Aber Blumen welken, und die Aufmerksamkeit lässt nach. Sie wurde von der Intensivstation auf eine normale Station verlegt. Dann wurde sie entlassen. Die Leute machten mit ihrem Leben weiter, und von ihr erwartete man das Gleiche, egal, ob sie sich nicht einmal im Bett umdrehen konnte, ohne von stechenden Schmerzen geweckt zu werden. Und egal, dass sie manchmal vor Qual erstarrte und fürchtete, etwas in ihr sei wieder gerissen, wenn unvermittelt die Wirkung der Schmerzmittel nachließ, während sie zum Beispiel gerade die Hand nach dem Shampoo ausstreckte.
Die Wunde infizierte sich. Sie musste für drei Wochen zurück in die Klinik. Ihr Magen blähte sich auf, als würde sie demnächst einen Alien zur Welt bringen. «Der Außerirdische Chestburster wird vermisst», witzelte sie mit dem Arzt, dem neuesten in einer langen Reihe von Spezialisten. «Wie in diesem Film.
Alien
?» Aber niemand verstand ihre Witze.
Im Laufe der Zeit verlor sie ihre Freunde. Die alten wussten nicht, was sie sagen sollten. Ganze Beziehungen gingen in den Abgründen unbehaglicher Stille unter. Wenn die Horrorshow ihrer Verletzungen ihre Freunde nicht zum Schweigen brachte, konnte sie immer noch von den Komplikationen erzählen, die sich aus dem Einsickern von Fäkalien in ihre Bauchhöhle ergaben. Es hätte sie nicht überraschen sollen, wie ihre Gesprächspartner auswichen. Sie wechselten das Thema, spielten ihre Neugier herunter, glaubten, sich richtig zu verhalten, während Kirby vor allem das Bedürfnis hatte, darüber zu reden. Um sich auszukotzen, gewissermaßen.
Die neuen Freunde waren Touristen, die zum Gaffen kamen. Es war fahrlässig, das wusste sie, aber so schrecklich leicht, einfach alles laufen zu lassen. Manchmal war dazu nichts weiter nötig, als einen Anruf nicht zu beantworten. Die hartnäckigeren Bekannten musste sie versetzen, wiederholt. Sie reagierten ratlos, ärgerlich und verletzt. Manche hinterließen ihr auf dem Anrufbeantworter wütend gebrüllte Nachrichten oder schlimmer, traurige. Irgendwann zog sie einfach den Stecker heraus und warf das Ding weg. Sie vermutete, das war für die anderen unterm Strich eine Erleichterung. Mit ihr befreundet zu sein war, als wäre man auf eine Tropeninsel gefahren, um ein bisschen Spaß zu haben, und würde dann von Terroristen gekidnappt. Sie hatte viel über Traumatisierungen gelesen. Die Berichte von Überlebenden.
Kirby tat ihren Freunden einen Gefallen. Manchmal wünscht sie sich, selbst auch so eine Ausstiegsmöglichkeit zu haben. Aber sie sitzt fest, eine Geisel in ihrem eigenen Kopf. Kann man bei sich selbst das Stockholm-Syndrom auslösen?
«Also, was ist jetzt damit, Mom?» Das Eis auf dem See bewegt sich und knackt harmonisch wie Windspiele aus Glasscherben.
«Oh, Honey.»
«Ich kann es dir in zehn Monaten zurückzahlen, maximal. Ich habe einen Zeitplan aufgestellt.»
Sie zieht einen Hefter aus ihrem Rucksack. Sie hat die Tabelle in einem Copyshop ausgearbeitet, in Farbe und mit einer ausgefallenen Schriftart, die aussieht wie Handschrift. Schließlich ist ihre Mutter Designerin. Rachel widmet dem Blatt die gebührende Aufmerksamkeit, liest konzentriert die Spalten, als würde sie ein Kunst-Portfolio begutachten, keinen Finanzierungsplan.
«Ich habe den größten Teil des Kredits für die Reise zurückgezahlt. Ich bin runter bis auf hundertfünfzig im Monat plus tausend Dollar von meinem Studienkredit, also ist es total machbar.» Um sie von ihrem Kredit freizustellen, war das Mitleid ihres Colleges dann doch nicht groß genug. Sie fängt an, draufloszureden, weil sie die Spannung nicht aushält. «Und es ist nicht viel, wirklich, für einen Privatdetektiv.» Normalerweise 75 Dollar pro Stunde, aber er hatte gesagt, er würde es für 300 am Tag machen und für 1200 die Woche. Viertausend für einen Monat. Sie hat drei Monate gerechnet, obwohl der Detektiv gesagt hat, er würde ihr nach einem Monat sagen können, ob sich das
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