Shining Girls (German Edition)

Freunden, weil Evanston langweilig war.
    Sie wollte sich immer ehrenamtlich engagieren, um für die Vereinigung blinder Studenten Lehrbuchtexte auf Tonband einzusprechen, kam aber nie dazu, genau wie sie eine Gitarre kaufte, aber nur einen Akkord spielen lernte. Für ihre Studentinnenverbindung tat sie allerdings sehr viel. Sie sagte immer, sie würde die erste Generaldirektorin von Goldman Sachs werden. Sie wollte drei Kinder haben und ein großes Haus und einen Mann, der etwas Interessantes machte, was gut zu ihrem Beruf passen würde – ein Chirurg oder ein Broker oder so etwas. Nicht wie Sebastian, mit dem man sich gut amüsieren konnte, der aber nicht gerade der perfekte Heiratskandidat war.
    Sie war zu laut, genau wie ihr Dad, ganz besonders bei Partys. Ihr Humor war ein bisschen derb. Ihr Lachen war berüchtigt oder sagenhaft, abhängig davon, wer etwas darüber sagte. Man konnte es im ganzen Verbindungshaus hören. Sie konnte nerven. Sie konnte auf diese Ich-bin-schlau-genug-um-die-ganze-Welt-zu-retten-Art engstirnig sein. Aber sie war auch die Sorte Mädchen, die man nicht unter Kontrolle halten kann. Es sei denn, man schlitzt sie auf und schlägt ihnen den Schädel ein.
    Ihr Tod wird eine Welle der Erschütterung unter ihren Bekannten auslösen, und sogar bei manch einem, der sie nicht kannte.
    Ihr Vater wird sich nie davon erholen. Er nimmt ab, bis er nur noch ein schwacher Schatten des lauten und rechthaberischen Immobilienmaklers ist, der beim Grillen einen Streit über das Fleisch vom Zaun bricht. Er verliert sämtliches Interesse am Verkauf von Häusern. Er beschränkt sich auf Angebotsvermittlung, während er an der Wand die leeren Stellen zwischen den Fotos der perfekten Familie anstarrt oder noch schlimmer: die Fugen zwischen den Fliesen im Badezimmer. Er lernt, sich etwas vorzumachen, die Trauer klein zu halten. Zu Hause fängt er an zu kochen. Er bringt sich französische Küche bei. Aber für ihn hat alles Essbare nur noch einen faden Geschmack.
    Ihre Mutter schließt den Schmerz in sich ein: ein Monster, das sie in ihrer Brust gefangen hält und das nur mit Wodka gebändigt werden kann. Sie isst nicht, was ihr Mann kocht. Als sie nach Kanada zurückziehen, in ein kleineres Haus, richtet sie sich im Gästezimmer ein. Irgendwann hört er auf, ihre Flaschen zu verstecken. Als sich zwanzig Jahre später ihre Leber vergrößert, sitzt er an ihrem Bett im Krankenhaus von Winnipeg, streichelt ihre Hand und rezitiert Kochrezepte, die er auswendig gelernt hat, wie wissenschaftliche Formeln, weil es sonst nichts zu sagen gibt.
    Ihre Schwester zieht so weit weg wie möglich und wechselt immer wieder den Wohnsitz, zuerst im Staat, dann im ganzen Land, dann geht sie als Au-pair nach Portugal. Sie ist kein besonders gutes Au-pair-Mädchen. Sie baut keine Beziehung zu den Kindern auf. Sie hat zu viel Angst davor, dass ihnen etwas passieren könnte.
    Nach drei Stunden Befragung ist das Alibi von Sebastian, Julias Freund seit sechs Wochen, von unabhängigen Zeugen und den Ölflecken auf seinen Shorts bestätigt. Er hat an seiner
Indian
gebastelt, dem Motorrad, das er restauriert, bei weit offener Garagentür und von der Straße aus gut zu sehen. Tief getroffen von dem Geschehen, betrachtet er Julias Tod als Zeichen dafür, dass er sein Leben mit dem Studium der Wirtschaftswissenschaften verschwendet. Er tritt in die Anti-Apartheids-Studentenbewegung ein und hat Sex mit Anti-Apartheids-Aktivistinnen. Seine tragische Vergangenheit haftet an ihm wie Pheromone, denen Frauen unmöglich widerstehen können. Sie hat sogar einen Titelsong: Janis Joplins «Get It While You Can».
    Julias beste Freundin liegt nachts mit Schuldgefühlen wach, weil sie trotz des Schocks und der Trauer ausgerechnet hat, dass die statistische Signifikanz der Ermordung Julias darin besteht, dass sie selbst mit achtundachtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit nicht ermordet werden wird.
    In einem anderen Stadtviertel lässt ein elfjähriges Mädchen, das von dem Fall nur gelesen und Julia nur vom Abschlussfoto ihres Schuljahrgangs kennt, den Schmerz über die Tat – und über das Leben im Allgemeinen – heraus, indem es mit einem Cuttermesser präzise Schnitte in die zarte Haut an der Innenseite seines Oberarms setzt, oberhalb des T-Shirt-Ärmels, wo die Schnitte nicht gesehen werden.
    Und fünf Jahre später ist Kirby dran.

Harper
    24 . November 1931
    Er schläft im Gästezimmer, die Tür zum Schutz vor den Gegenständen fest geschlossen,