Shining Girls (German Edition)
Termin bei der Familienplanungsberatung, den Geburtstagen ihrer Freunde und diversen Telefonnummern, die von der Polizei eine nach der anderen überprüft werden. Zwischen den Kalenderseiten steckt eine Mahnung für ein überfälliges Bibliotheksbuch.
Die Zeitungen schreiben, es wäre in dieser Gegend das brutalste Verbrechen seit fünfzehn Jahren. Die Polizei verfolgt sämtliche Spuren und bittet dringend darum, dass sich eventuelle Zeugen melden. Man hofft sehr darauf, den Mörder schnell ausfindig zu machen.
Kirby bekam von alldem nichts mit. Sie war zu der Zeit ziemlich mit Fred Tucker beschäftigt, Gracies anderthalb Jahre älterem Bruder, der versuchte, seinen Penis in sie zu schieben.
«Der passt nicht rein», keucht er atemlos.
«Dann streng dich härter an», zischt Kirby.
«Du hilfst mir nicht!»
«Was soll ich denn noch alles machen?», fragt sie genervt. Sie trägt ein Paar von Rachels schwarzen Lacklederpumps zu einem hauchdünnen beige-goldfarbenen Slip, den sie vor drei Tagen im Kaufhaus einfach eingesteckt und den leeren Bügel ganz hinten auf den Ständer geschoben hat. Sie hat Mr. Partridges Rosen geplündert, um die Laken mit ihren Blütenblättern zu bestreuen. Sie hat aus dem Nachttisch ihrer Mutter Kondome gemopst, damit Fred die Peinlichkeit erspart blieb, sie kaufen zu müssen. Sie hat dafür gesorgt, dass Rachel nachmittags nicht nach Hause kommt. Sie hat zur Übung sogar mit ihrem eigenen Handrücken geknutscht. Was ungefähr so viel brachte, wie sich selbst zu kitzeln. Nur andere Menschen können einen richtig was fühlen lassen.
«Ich dachte, du hast das schon mal gemacht.» Fred lässt sich auf die Ellbogen fallen, sein Gewicht liegt auf ihr. Es ist ein gutes Gewicht, obwohl seine Hüften knochig sind und seine Haut ganz glatt vor Schweiß.
«Das hab ich nur gesagt, damit du nicht nervös wirst.» Kirby greift an ihm vorbei nach Rachels Zigaretten auf dem Nachttisch.
«Du solltest nicht rauchen», sagt er.
«Ach ja? Und du solltest nicht mit einer Minderjährigen ins Bett gehen.»
«Du bist sechzehn.»
«Erst am achten August.»
«Oh Mist», sagt er und klettert eilig von ihr herunter. Sie beobachtet, wie er durchs Schlafzimmer hastet, nackt, abgesehen von den Socken und dem Kondom – sein Schwanz hält sich immer noch tapfer und startklar aufrecht –, und nimmt einen langen Zug ihrer Zigarette. Sie mag Zigaretten nicht mal. Aber wer cool sein will, braucht Requisiten, hinter denen er sich verstecken kann. Sie hat die Formel berechnet: Ein kleinerer Teil von ihr muss die Kontrolle behalten, ohne dass es so aussieht, als hätte sie das vor, und der größere Teil muss so tun, als wäre es ihm sowieso egal. Und hey, es ist schließlich keine große Sache, ob sie heute ihre Unschuld an Fred Tucker verliert oder nicht. (Es ist eine
total
große Sache.)
Sie begutachtet den Lippenstiftabdruck, den sie auf dem Filter hinterlassen hat, und unterdrückt den Hustenreiz. «Entspann dich, Fred. Es soll eigentlich Spaß machen», sagt sie und spielt die Lässige, obwohl sie in Wirklichkeit sagen will:
Es ist okay. Ich glaube, ich liebe dich.
«Warum komme ich mir dann vor, als hätte ich einen Herzinfarkt?», sagt er und greift sich an die Brust. «Sollten wir nicht vielleicht einfach nur Freunde bleiben?»
Er tut ihr leid. Aber sie tut sich auch leid. Sie blinzelt angestrengt und drückt die Zigarette aus, nach drei Zügen, als hätte der Rauch ihre Augen tränen lassen.
«Willst du ein Video anschauen?», sagt sie.
Also machen sie das. Und fummeln schließlich auf der Couch aneinander herum und küssen sich eineinhalb Stunden, während Matthew Broderick an seinem Computer die Welt rettet. Sie bekommen nicht einmal mit, dass der Film irgendwann zu Ende ist und nur noch graues Rauschen auf dem Bildschirm zu sehen ist, weil seine Finger in ihr sind und sein Mund heiß auf ihrer Haut liegt. Und sie steigt auf ihn, und es tut weh, womit sie gerechnet hat, und es ist schön, was sie gehofft hat, aber es ist nicht weltbewegend, und danach küssen sie sich lange und rauchen den Rest der Zigarette, und er hustet und sagt: «So hab ich es mir nicht vorgestellt.»
Keiner von ihnen wird ermordet.
Der Name des toten Mädchens ist Julia Madrigal. Sie war einundzwanzig. Sie hat im dritten Jahr an der Northwestern University Wirtschaftswissenschaften studiert. Sie mochte Wandern und Hockey, weil sie aus Banff in Kanada stammte, und Kneipenbesuche in der Sheridan Road mit ihren
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