Shining Girls (German Edition)
an den Kreuzungen funktionieren. Der grüne Mann und der rote. Eine Zeichensprache für Kinder. Und sind all diese Leute nicht genau das, mit ihren Spielsachen, ihrem Lärm und ihrer Eile?
Er sieht, dass die Stadt ihre Farbe verändert hat, von schmuddeligen Weiß- und Cremetönen zu hundert Braunschattierungen. Wie Rost. Wie Scheiße. Er geht zum Park hinunter, um mit eigenen Augen zu sehen, dass die Hooverville spurlos verschwunden ist.
Der Anblick der Stadt von hier aus ist nervenzermürbend. Die Umrisse der Gebäude vor dem Himmel sind falsch, schimmernde Türme, so hoch, dass sie von den Wolken verschluckt werden. Wie ein Höllenpanorama.
Die Autos und das Gedränge lassen ihn an Nagekäfer denken, die sich durch einen Baum fressen. Bäume, die von den gewundenen Bohrkanälen der Käfer durchsiebt sind, gehen zugrunde. Genau wie dieser ganze verpestete Ort zugrunde gehen, in sich selbst zusammenbrechen wird, wenn die Fäulnis einsetzt. Vielleicht sieht er die Stadt untergehen. Das wäre doch was.
Aber jetzt hat er ein Ziel. Der Gegenstand brennt in seinem Kopf. Er weiß so genau, wohin er gehen muss, als würde er den Weg von früher kennen.
Er steigt in die U-Bahn, um in die Eingeweide der Stadt vorzudringen. In den Tunnels ist das Rattern der Schienen lauter. Kunstlicht flitzt draußen an den Fenstern vorbei, zerschneidet die Gesichter der Leute in Augenblicksfragmente.
Es führt ihn schließlich zum Hyde Park, wo die Universität eine rosafarbene Wohlstandsinsel zwischen Arbeiterhäusern geschaffen hat, die überwiegend schwarz sind. Er ist kribbelig vor Erwartung.
Bei dem griechischen Imbiss an der Ecke besorgt er sich einen Kaffee, schwarz, drei Würfel Zucker. Dann geht er an den Studentenwohnheimen entlang, bis er eine Sitzbank findet. Sie ist hier, irgendwo. Und es ist vorherbestimmt.
Er schließt die Augen bis auf einen Spalt und legt den Kopf zurück, als würde er den Sonnenschein genießen und nicht die Gesichter der Mädchen überprüfen, die an ihm vorbeigehen. Glänzendes Haar und strahlende Augen unter viel Lidschatten und lockeren Frisuren. Sie tragen ihre Privilegien wie etwas, das man morgens zusammen mit den Socken anzieht. Es lässt sie stumpf werden, denkt Harper. Und dann sieht er sie aus einem weißen Kastenwagen mit einer Delle in der Tür steigen, der vor dem Eingang eines Wohnheims kaum drei Meter von ihm entfernt angehalten hat. Der Schock des Wiedererkennens geht ihm durch und durch. Liebe auf den ersten Blick.
Sie ist winzig. Chinesin oder Koreanerin in blauweiß melierten Jeans und mit schwarzem Haar, das hochtoupiert ist wie Zuckerwatte. Sie öffnet den Kofferraum und fängt an, Kartons auszuladen und neben das Auto zu stellen, während ihre Mutter geschäftig aus dem Auto steigt und nach hinten kommt, um zu helfen. Es ist offenkundig, sogar während die junge Frau schuftet, angestrengt über einen Karton hinweglacht, dessen Boden sich unter dem Gewicht von Büchern durchbiegt, dass sie zu einer anderen Spezies gehört als die leeren Hülsen von Mädchen, die er bisher gesehen hat. Voller
Leben
, das ausschlägt wie eine Peitsche.
Harper hat sein Verlangen nie auf einen bestimmten Frauentyp beschränkt. Manche Männer bevorzugen Mädchen mit Wespentaillen oder rotem Haar oder üppigen Hintern, in die man seine Finger graben kann, aber er hat immer genommen, was er kriegen konnte und wann immer er es kriegen konnte, und meistens hat er dafür bezahlt. Aber das Haus fordert mehr. Es will
Potenzial
– um das Feuer in ihren Augen für sich zu beanspruchen und es absterben zu lassen. Harper weiß, wie man das macht. Er wird ein Messer kaufen müssen. Scharf wie ein Bajonett.
Er lehnt sich zurück und fängt an, eine Zigarette zu drehen, während er so tut, als würde er den Kampf der Tauben und Möwen um ein Stück Sandwich beobachten, das sie aus dem Abfalleimer gezogen haben. Jeder Vogel kämpft für sich allein. Harper vermeidet es, seinen Blick nach links und auf das Mädchen und dessen Mutter zu richten, während sie die Kartons hineintragen. Aber er kann alles hören, und wenn er beim Zigarettendrehen versonnen auf seine Schuhe starrt, kann er sie ein wenig aus dem Augenwinkel beobachten.
«Okay, das ist der letzte», sagt das Mädchen – Harpers Mädchen – und holt einen halb geöffneten Karton aus dem Gepäckraum. Das Mädchen entdeckt etwas in dem Karton und zieht es heraus, eine Puppe, schockierend nackt. Das Mädchen hält die Puppe am Knöchel
Weitere Kostenlose Bücher