Shining Girls (German Edition)
Doch er bleibt bei dem Mülleimer stehen, an dem
Jin-Sook
den Karton abgestellt hat.
Er geht daneben in die Hocke und wühlt in den Spielsachen herum. Deshalb ist er hier. Alle Teile müssen an ihren Platz. Er folgt einem Plan.
Er findet das Pony mit der goldenen Mähne, als
Jin-Sook
(der Name singt in seinem Kopf) gerade aus dem Gebäude auftaucht und mit schuldbewusster Miene zum Karton zurückhastet.
«Hey. Sorry, ich … mmh, ich hab mich umentschieden», fängt sie an sich zu entschuldigen, dann legt sie verwirrt den Kopf schräg. Von Nahem sieht er, dass sie einen einzelnen Ohrring trägt, eine baumelnde Kaskade aus blauen und gelben Sternen an Silberkettchen. Die Bewegung lässt die Sterne zittern. «Das ist mein Zeug», sagt sie anklagend.
«Ich weiß.» Er legt spielerisch die Hand zum Gruß an die Schläfe, während er an seiner Krücke weghinkt. «Ich bringe dir dafür etwas anderes.»
Das tut er, aber erst 1993 , wenn sie als voll ausgebildete Sozialarbeiterin für das Wohnungsamt von Chicago arbeitet. Sie wird seine zweite Jagdbeute werden. Und die Polizei wird das Geschenk nicht finden, das er bei ihr lässt. Oder bemerken, dass er eine Baseballkarte mitnimmt.
Dan
10 . Februar 1992
Die Schrifttype der
Chicago Sun-Times
ist hässlich. Genau wie das Gebäude, in dem sie ihren Sitz hat, ein von Hochhäusern umgebener Schandfleck mit nur wenigen Stockwerken am Ufer des Chicago Rivers in der Wabash Avenue. Und es ist wirklich eine Scheißbude. Die Schreibtische sind immer noch die schweren alten Metalldinger aus dem Zweiten Weltkrieg mit Vertiefungen für die Schreibmaschinen, in denen jetzt Computer stehen. In den Lüftungsschlitzen ist Druckerschwärze von den Druckmaschinen festgebacken, die das gesamte Gebäude vibrieren lassen, wenn sie angeworfen werden. Ein paar Reporter haben Druckerschwärze in den Adern. Die
Sun-Times
-Belegschaft hat Tinte in den Lungen. Ab und zu reicht jemand Beschwerde beim Amt für Arbeitsschutz ein.
Es liegt ein gewisser Stolz in dieser Hässlichkeit. Besonders im Vergleich mit dem
Tribune
-Hochhaus gegenüber mit seinen neugotischen Türmchen und Strebepfeilern wie eine Kathedrale des Nachrichtenwesens. Die
Sun-Times
hat ein offenes Großraumbüro, in dem die Schreibtische dicht an dicht um den Schreibtisch des Chefredakteurs stehen. Vermischtes und Sport sind an die Seite abgeschoben. Es ist chaotisch, es ist laut. Die Leute unterhalten sich über die Schreibtische und den quäkenden Polizeifunk hinweg. Es laufen Fernseher, Telefone klingeln, und die Faxapparate piepsen, wenn sie hereinkommende Storys ausspucken. Bei der
Tribune
dagegen gibt es abgetrennte
Schreibtischnischen
.
Die
Sun-Times
ist die Zeitung der Arbeiterklasse, der Cops, der Müllmänner. Die
Tribune
ist das Qualitätsblatt der Millionäre, der Professoren und der wohlhabenden Vororte. Es ist South Side gegen North Side, und die beiden werden nie zueinanderfinden – bis zur Praktikantensaison, wenn die reichen Collegebälger mit Beziehungen herunterkommen.
«Neuzugänge!», ruft Matt Harrison im Singsang, während er zwischen den Schreibtischen entlanggeht, die jungen Leute mit dem wachen Blick im Kielwasser wie Entenküken hinter ihrer Mama. «Wärmt den Kopierer vor! Räumt eure schlampigen Ablagen auf! Haltet eure Kaffeebestellungen bereit!»
Dan Velasquez lässt sich knurrend tiefer hinter seinen Computer sinken, ignoriert das aufgeregte Geschnatter der Entenküken, die zum ersten Mal in einer richtigen, echten Zeitungsredaktion sind. Er sollte nicht mal hier sein. Es gibt keinen Grund für ihn, ins Büro zu kommen. Nie.
Aber sein Chefredakteur will ein Gespräch über die Berichterstattung zur kommenden Baseball-Saison, bevor Dan nach Arizona zum Frühlingstraining jettet. Als würde das einen Unterschied machen. Für einen Cubs-Fan geht es darum, trotz verschwindend geringer Chancen oder rationaler Überlegungen Optimist zu bleiben. Das ist etwas für wahrhaft Gläubige. Vielleicht kann er das sagen. Kommt mit ein bisschen Leitartikelgewese davon. Er hat Harrison zugesetzt, damit er ihn eine Kolumne und nicht immer nur Spielerporträts schreiben lässt. Da zeigt sich nämlich die echte Schreibe: bei Meinungsstücken. Man kann Sport (oder egal, Filme) als Gleichnis für den Zustand der Welt nehmen. Man kann bedeutende Einsichten zur Kulturdebatte einbringen. Dan durchforscht seinen Kopf nach bedeutenden Einsichten. Oder wenigstens einer Meinung. Nichts zu entdecken, stellt er
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