Shining Girls (German Edition)
fest hoch. «Omma!»
«Was ist denn jetzt wieder?», sagt die Mutter.
«Omma, ich hab dir doch gesagt, du sollst das bei der Heilsarmee abgeben. Was soll ich mit dem ganzen Krempel?»
«Du liebst diese Puppe», tadelt sie ihre Mutter. «Du solltest sie behalten. Für meine Enkel. Aber jetzt noch nicht. Erst musst du einen netten Jungen finden. Einen Arzt oder Anwalt, nachdem du selbst ja Soziopathie studieren musst.»
«Soziologie, Omma.»
«Als gäbe es da einen Unterschied. All diese schlimmen Orte. Du forderst die Schwierigkeiten geradezu heraus.»
«Du übertreibst. Dort wohnen einfach nur Menschen.»
«Klar. Schlechte Menschen. Warum forschst du nicht über Opernsänger? Oder Ärzte. Das wäre eine gute Methode, um einen netten Arzt kennenzulernen, glaube ich. Sind die nicht interessant genug? Statt für diese Sozialwohnungsprojekte zu arbeiten?»
«Vielleicht sollte ich die Ähnlichkeiten zwischen koreanischen und jüdischen Müttern erforschen.» In Gedanken greift sie in die langen, blonden Haare der Puppe.
«Und ich sollte dir vielleicht eine Ohrfeige dafür geben, dass du frech zu der Frau bist, die dich aufgezogen hat! Wenn deine Großmutter dich so reden hören würde …»
«Sorry, Omma», sagt das Mädchen verlegen. Es betrachtet die Puppenhaare, die sich um seine Finger gewickelt haben. «Weißt du noch, wie ich mal versucht habe, meiner Barbie die Haare schwarz zu färben?»
«Mit Schuhcreme! Die mussten wir wegwerfen.»
«Stört dich das nicht? Diese einheitliche Erwartungshaltung?»
Ungeduldig wedelt die Mutter mit der Hand. «Immer deine hochtrabenden Worte aus dem College. Wenn dich das so sehr stört, kannst du ja bei deinen Projekten mit den Kindern aus den Sozialwohnungen schwarze Barbies nehmen.»
Das Mädchen wirft die Puppe in den Karton zurück, hat sich damit abgefunden, sie schließlich doch mitzunehmen. «Das ist gar keine schlechte Idee, Omma.»
«Aber nimm keine Schuhcreme!»
«Darüber macht man keine Witze!» Sie beugt sich über den Karton, um die ältere Frau auf die Wange zu küssen. Ihre Mutter schiebt sie weg, verlegen über diese Zärtlichkeitsdemonstration.
«Sei brav», sagt sie und steigt ins Auto. «Lern ordentlich. Keine Jungs. Es sei denn, es sind Ärzte.»
«Oder Anwälte. Verstanden. Bye, Omma. Danke für deine Hilfe.»
Das Mädchen winkt und winkt, während die Frau in Richtung des Parks wegfährt, dann lässt das Mädchen den Arm fallen, weil der Wagen eine leichtsinnige Kehrtwende macht und den ganzen Weg zurückfährt. Die Mutter kurbelt das Fenster herunter.
«Das hätte ich beinahe vergessen», sagt sie. «Es gibt noch so viele wichtige Sachen. Denk an das Abendessen am Freitag. Und trink dein Han-Yak. Und ruf deine Großmutter an, damit sie weiß, dass du den Umzug hinter dir hast. Denkst du an all das, Jin-Sook?»
«Ja, okay, ich hab’s gehört. Bye, Omma. Wirklich. Du kannst fahren. Bitte.»
Sie wartet, bis das Auto losfährt. Als es um die Ecke ist, betrachtet sie hilflos den Karton in ihren Armen und stellt ihn neben den Mülleimer, bevor sie in der Wohnanlage verschwindet.
Jin-Sook
. Ihr Name schickt eine Hitzewelle durch Harpers Körper. Er könnte sie jetzt nehmen. Sie im Treppenhaus erwürgen. Aber hier gibt es Zeugen. Und, das weiß er im tiefsten Inneren, es gibt Regeln zu befolgen. Jetzt ist nicht die rechte Zeit.
«Hey», sagt ein junger Mann mit hellbraunen Haaren nicht gerade freundlich und beugt sich mit dem beiläufigen, übertriebenen Selbstbewusstsein seiner Körpergröße über ihn. Er trägt ein T-Shirt mit einer Nummer drauf und Jeans, die am Knie abgeschnitten sind, sodass weiße Fäden herunterhängen. «Wollen Sie den ganzen Tag hier sitzen?»
«Rauche nur meine Zigarette zu Ende», sagt Harper und lässt die Hand in den Schoß über seine Halberektion fallen.
«Da beeilen Sie sich mal lieber. Die Campus-Security mag es nicht, wenn hier Leute rumhängen.»
«Freie Stadt», sagt er, obwohl er keine Ahnung hat, ob das stimmt.
«Ach ja? Trotzdem, Sie sind besser nicht mehr hier, wenn ich zurückkomme.»
«Ich gehe gleich.» Harper nimmt einen langen Zug, wie um es zu beweisen, rührt sich aber keinen Zentimeter. Das genügt, um den Jungbullen zu beruhigen. Der nimmt die Ankündigung mit einem Nicken zur Kenntnis, geht in Richtung einer Ladenzeile weiter und wirft dabei einen Blick über die Schulter zurück. Harper lässt die Zigarette auf den Boden fallen und hinkt den Weg hinauf, als würde er verschwinden.
Weitere Kostenlose Bücher