Shining Girls (German Edition)
verlässt ihn seine Frau trotzdem, und er hat diese Herzgeschichte. Stress. Frustration. Ich habe nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus versucht, ihn einem anderen Ressort zuzuteilen, aber er wollte beim Leichenzählen bleiben. Schon komisch, aber ich glaube, es war dein Fall, bei dem es ihm dann doch endgültig gereicht hat.»
«Er hätte nicht aufgeben sollen», sagt Kirby, und die Wildheit in ihrer Stimme überrascht alle beide.
«Er hat nicht aufgegeben. Er ist ausgebrannt. Gerechtigkeit ist ein hoher Anspruch. Eine schöne Theorie, aber im wahren Leben geht’s um die Praxis. Wenn du das jeden Tag vor dir siehst …» Er zuckt mit den Schultern.
«Plauderst du wieder aus dem Nähkästchen, Matt?» Victoria, die Bildredakteurin, lehnt mit verschränkten Armen am Türrahmen. Sie trägt ihre übliche Kluft aus Herrenhemd, Jeans und hohen Schuhen, ein bisschen schlampig, ein bisschen scheißegal.
Der Chefredakteur wirkt leicht schuldbewusst. «Du kennst mich doch, Vicky.»
«Wie du die Leute mit deinen ewigen Geschichten und tiefen Erkenntnissen zu Tode langweilst? Allerdings.» Aber das Funkeln in ihren Augen sagt etwas anderes, und plötzlich geht Kirby auf, dass die Jalousien in diesem Raum aus einem bestimmten Grund heruntergelassen sind.
«Wir waren ohnehin fertig, stimmt’s, Praktikantin?»
«Ja», sagt Kirby. «Ich mach hier Platz. Ich packe nur noch das Zeug zusammen.» Sie schiebt die Hefter zusammen. «’tschuldigung», murmelt sie, was vermutlich das Dümmste ist, was sie von sich geben kann, weil es darauf hinweist, dass es etwas gibt, für das man sich entschuldigen könnte.
Victoria runzelt die Stirn. «Kein Problem, ich hab sowieso bergeweise Layouts zu prüfen. Wir verschieben unseren Termin auf später.» Sie legt einen glatten, schnellen Abgang hin. Die beiden anderen sehen ihr nach.
Harrison schnieft. «Du solltest dich wirklich mit mir absprechen, bevor du dir so eine mühsame Recherche auflädst, weißt du?»
«Okay. Also, gilt das jetzt als abgesprochen?»
«Leg es auf Eis. Bis du ein bisschen mehr Erfahrung hast, in Ordnung? Dann reden wir darüber. In der Zwischenzeit verrate ich dir, wie das andere wichtigste Wort im Journalismus heißt: Diskretion. Was bedeutet, sag Dan nicht, dass ich irgendwas über ihn erzählt habe.»
Oder dass du die Bildredakteurin vögelst, denkt sie.
«Muss mich ranhalten. Weiter so, Arbeitsbiene.» Er geht hinaus, bestimmt hofft er, Victoria noch einzuholen.
«Na klar», murmelt Kirby vor sich hin, als sie mehrere Hefter in ihren Rucksack gleiten lässt.
Harper
Jede Zeit
In seinem Kopf erlebt er es nach, wieder und wieder, während er auf dem Bett des Schlafzimmers liegt, von dem aus er mit ausgestrecktem Arm die Windungen der Pailletten auf den Flügeln nachziehen kann, während er mit der anderen Hand seinen Schwanz reibt und an die aufflackernde Enttäuschung in ihrem Gesicht denkt.
Es genügt, um das Haus zufriedenzustellen. Für den Augenblick. Die Gegenstände bleiben ruhig. Der starke Druck in seinem Kopf hat nachgelassen. Er hat Zeit, sich einzurichten und alles auszukundschaften. Und um die Polackenleiche wegzuschaffen, die immer noch verwesend im Flur liegt.
Er probiert andere Tage aus, achtet nach der Begegnung mit dem obdachlosen, glotzäugigen Jungen darauf, dass ihn niemand kommen oder gehen sieht. Die Stadt verändert sich jedes Mal. Ganze Nachbarviertel entwickeln sich und gehen unter, setzen hübsche Masken auf und lassen sie wieder fallen, sodass die Krankheit sichtbar wird. Die Stadt trägt Zeichen der Verwahrlosung: hässliche Schmierereien an den Hauswänden, leere Fensterhöhlen, gefrierender Unrat. Manchmal kann er den zeitlichen Verlauf nachverfolgen, manchmal wird die ganze Umgebung komplett unkenntlich, sodass er sich am See und den Wahrzeichen, an die er sich noch erinnern kann, neu orientieren muss. Die schwarz aufragende Hochhausnadel, die gerippten Doppeltürme, die Schlaufen und Windungen des Flusses.
Selbst wenn er umherschlendert, hat er ein Ziel. Sein Essen kauft er in Läden und Fastfood-Restaurants, in denen er anonym bleiben kann. Er vermeidet Gespräche, um keinen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Er benimmt sich freundlich, aber zurückhaltend. Er beobachtet die Leute genau und merkt sich angemessene Verhaltensweisen, um sie später nachahmen zu können. Nur wenn er etwas essen oder zur Toilette muss, spricht er mit jemandem, und dann auch nur so lange, bis er bekommen hat, was er will.
Das
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