Shining Girls (German Edition)
sie gesehen hatte, wie einer Frau von einer herabstürzenden Kiste die Fußknochen zerschmettert wurden.
Zora springt aufs Trockendock hinunter und geht zwischen den Leuten vom Schichtwechsel hindurch. Musik dröhnt aus den Lautsprechern, die auf Stangen neben den Scheinwerfern montiert wurden, um die gute Laune mit fröhlichen Radiohits hochzuhalten. Bing Crosby leitet zu den Mills Brothers und Judy Garland über. Bis sie ihre Arbeitskluft verstaut hat und zwischen den Schiffen in unterschiedlichen Montagestadien und den Gräben hindurchgeht, die zur Aufstellung für die Drehkräne angelegt wurden, tönt Al Dexter aus den Lautsprechern. «Pistol-packin’ Mama». Herzen und Waffen. Leg sie nieder, Mama. Sie hat die kleine Blanche nie verführen wollen.
Die Menge verflüchtigt sich, als die Frauen zu ihren Fahrgemeinschaften gehen oder in Richtung der billigen Arbeiterunterkünfte in der Nähe, mit Etagenbetten, die so hoch sind wie die Kojen, die sie in den LST s zusammenschweißen.
Sie geht nordwärts durch die Hauptstraße von Seneca. Die Stadt ist von einer winzigen Gemeinde ohne Kino und Schule zu einem betriebsamen Arbeitslager mit 11 000 Bewohnern angeschwollen. Der Krieg ist gut für die Wirtschaft. Die allgemeine Unterkunft für Arbeiter ist in der Highschool, aber das gilt nicht für Leute wie Zora.
Ihre Stiefel knirschen auf dem Schotter, als sie über die dicken Bahnschwellen der Rock Island Line steigt, die half, den Westen zu zivilisieren, und in jedem mit Migranten überfüllten Waggon Hoffnungen transportierte, die Hoffnungen von Weißen, Mexikanern und Chinesen, aber vor allem von Schwarzen. Sie wollten um jeden Preis aus dem Süden weg, sprangen in einen Zug in Richtung Charm City und der Arbeitsstellen, die im
Chicago Defender
oder manchmal beim
Defender
ausgeschrieben waren, wie im Fall ihres Vaters, der sechsunddreißig Jahre lang als Setzer an einer Linotype-Maschine gearbeitet hat. Inzwischen bringt die Bahn vorgefertigte Teile. Und ihr Daddy ist schon seit zwei Jahren unter der Erde.
Sie überquert den Highway 6 , auf dem es zu dieser Zeit am frühen Morgen gespenstisch ruhig ist, und steigt auf dem Weg zur Farm auf den steilen Hügel hinter dem Mount Hope-Friedhof. Sie
könnte
schon weiter sein. Aber nicht viel. Sie ist halb den Abhang hinauf, als der Mann mit der Krücke aus den Baumschatten tritt und auf sie zugeht.
«Guten Abend, Ma’am, kann ich ein Stück mit Ihnen gehen?», fragt Harper.
«Oh nein», sagt sie und schüttelt den Kopf vor diesem Weißen, der hier um diese Zeit nichts verloren hat. Es ist eine Nebenwirkung ihrer Arbeit, dass sie «Saboteur» noch vor «Vergewaltiger» denkt. «Nein danke, Sir. Ich habe einen langen Tag hinter mir und gehe nach Hause zu meinen Kindern. Davon abgesehen, ist es schon Morgen, wenn Sie mal genau überlegen.» Das stimmt. Es ist gerade sechs Uhr, auch wenn es noch dunkel und kalt ist.
«Komm schon, Miss Zora. Erinnerst du dich denn nicht an mich? Ich habe dir doch gesagt, dass wir uns wiedersehen.»
Sie bleibt wie angewurzelt stehen, kann es nicht fassen, dass sie sich jetzt mit so einem Scheiß abgeben muss. «Mister, ich bin müde, und mir tut alles weh. Ich habe eine Neun-Stunden-Schicht hinter mir, ich habe vier Kinder, die auf mich warten, und Sie machen mich nervös mit Ihrem Gerede. Ich schlage vor, Sie humpeln weg und lassen mich allein, zum Teufel. Sonst setze ich Sie außer Gefecht, klar?»
«Das kannst du nicht», erklärt er ihr. «Du leuchtest. Ich brauche dich.» Er hat ein Heiligenlächeln aufgelegt oder das Lächeln eines Irren, und perverserweise – und zu Unrecht – beruhigt sie das.
«Ich bin nicht in der Stimmung für Komplimente, Sir, und auch nicht für religiöse Missionierungsgespräche, falls Sie einer von diesen Jehova-Typen sind.» Mit diesen Worten will sie sich von ihm verabschieden. Selbst wenn es hell gewesen wäre, hätte sie ihn nicht als den Mann wiedererkannt, der vor elf Jahren auf der Straße vor ihrem Wohnhaus herumlungerte. Obwohl die Standpauke, die ihr Vater ihr an diesem Abend gehalten hatte, damit sie vorsichtiger war, solche Angst und zugleich Trotz in ihr ausgelöst hatte, dass sie noch jahrelang nachwirkte. Einmal hatte ein weißer Ladenbesitzer ihr sogar eine Ohrfeige verpasst, weil sie ihn angestarrt hatte. Aber daran hat sie schon sehr lange nicht mehr gedacht, und es ist dunkel, und sie ist hundemüde. Ihre Muskeln schmerzen, die Trauer nagt an ihrem Herz. Sie hat keine Zeit
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