Shining Girls (German Edition)
Aufschrei zurück und saugte an der Blase, die sich schon über seinem Handgelenkknochen bildete. Sie hat es den anderen nicht erzählt. Sie plappert vielleicht öfter mal ein bisschen vorschnell los, aber sie weiß, wann sie besser den Mund hält. Irgendwer muss gesehen haben, wie Stewart aus der Damentoilette kam, die Blamage noch ins Gesicht geschrieben, denn die Geschichte verbreitete sich schnell. Seitdem ist er absolut gegen sie.
Sie arbeitet die Mittagspause durch, damit sie ihm auf dem Weg nach draußen nicht begegnet, obwohl ihr Magen knurrt wie ein Tiger. Erst als Stewart mit Martin zu einem Meeting geht, nimmt sie ihre Handtasche und macht sich auf den Weg zur Tür.
«Jetzt erst Mittagspause?», sagt George mit einem freundlichen Blick auf seine Uhr.
«Ich bin ganz schnell zurück. Ich sitze schon wieder an meinem Schreibtisch, bevor du mich hast rausgehen sehen», sagt sie.
«Wie der Blitz?», sagt er. Und das ist es. So gut wie ein Geständnis.
«Genau», sagt sie, obwohl sie diesen verdammten Comic «Der rote Blitz» nie gelesen hat. Sie zwinkert ihm anzüglich zu und flitzt aus der Tür, über die schimmernden Mosaikfliesen, die aussehen wie Fischschuppen, bis zum Lift mit seinen verzierten Goldtüren.
«Alles in Ordnung, Miss Rose?», fragt der Pförtner am Empfang, als sie aus dem Lift steigt. Sein Schädel wirkt genauso glänzend poliert wie die Türknäufe.
«Alles prima, Lawrence», gibt sie zurück. «Und selbst?»
«Hab die Grippe, Ma’am. Muss vielleicht später mal rüber zum Drugstore. Sie sehen blass aus. Ich hoffe, Sie haben sich nicht auch die Grippe eingefangen. Die ist ganz schön heftig.»
Draußen vor dem Fisher Building lehnt sie sich an den Torbogen des Hauptportals und spürt, wie sich das Relief des Drachenfischs an der Wand in ihren Rücken drückt. Ihr Herz trommelt in ihrer Brust, als wollte es sich ins Freie boxen.
Sie will nach Hause und sich in ihrem ungemachten Bett zusammenrollen. (Die Laken riechen vom Mittwochabend immer noch nach Sashas Möse.) Ihre Katzen wären begeistert, wenn sie schon nachmittags zu Hause wäre. Und sie hat noch eine halbe Flasche Merlot in der Küche. Aber wie würde das aussehen, wenn sie sich mitten am Tag freinimmt? Vor allem für
George
.
Benimm dich normal, verdammt, denkt sie. Reiß dich zusammen. Sie zieht schon Blicke auf sich und, noch schlimmer, freundliche Anteilnahme. Sie drückt sich vom Torbogen weg, bevor die alte Dame mit dem faltigen Hals herüberkommen und fragen kann, ob alles mit ihr in Ordnung ist. Sie geht entschlossen die Straße hinauf zu einer Bar ein paar Blocks weiter, in der sie ziemlich sicher keinem ihrer Kollegen über den Weg laufen wird.
Es ist eine von diesen Souterrainkneipen, durch deren Fenster man nur die Beine und Schuhe der Passanten vorbeilaufen sieht. Der Barmann schaut fragend auf, als sie hereinkommt. Er ist noch mit Vorbereiten beschäftigt, stellt die ramponierten Stühle von genauso ramponierten Tischen auf den Boden. «Wir haben noch nicht geöffnet …»
«Whiskey Sour. Unverdünnt.»
«Tut mir leid, Miss …»
Sie legt einen Zwanziger auf die Theke. Er zuckt mit den Schultern, greift zu den Flaschen über der Theke und fängt an, ihren Drink zu mixen. Er macht es extra umständlich, denkt Willie. «Sind Sie aus Chicago?», sagt er unwillig.
Sie tippt auf den Geldschein. «Ich komme daher, wo noch mehr davon ist, wenn Sie nicht quatschen, während Sie mir meinen Drink machen.» In dem Spiegel hinter der Theke sieht sie gespiegelte Beine vorbeigehen. Schwarze Herrenhalbschuhe. Braune Spangenschuhe. Ein Mädchen in Söckchen und Schnürschuhen. Ein Mann hinkt mit einer Krücke vorbei. Das regt irgendeine Erinnerung an, aber als sie sich umdreht, ist er schon verschwunden. Auch egal. Wenigstens ist ihr Drink jetzt fertig.
Willie kippt ihn runter und dann noch einen. Beim dritten hat sie das Gefühl, wieder ins Büro gehen zu können. Sie schiebt den Zwanziger über die Theke.
«He, was ist mit dem anderen?»
«Netter Versuch», sagt sie und schwimmt in angenehmer Benommenheit zurück ins Büro. Als sie am Portal des Gebäudes ankommt, wird die leichte Umnebelung zu einem mulmigen Gefühl. Es legt sich tonnenschwer auf sie, als würde sich über ihr ein Gewitter zusammenbrauen. Sie spürt, wie bei jedem Schritt der atmosphärische Druck ansteigt, sodass sie ihre gesamte Willenskraft zusammenraffen muss, um ein fröhliches Gesicht aufzusetzen, als sie die Bürotür öffnet.
Gott,
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