Shining Girls (German Edition)
wie hatte sie sich nur so sehr darüber täuschen können, wer ihre Feinde sind. Stewart sieht sie besorgt an, nicht verächtlich. Vielleicht ist ihm ja selber klar, dass er sich an jenem Abend unmöglich benommen hat. Ihr wird bewusst, dass er sich seitdem wie der perfekte Gentleman verhält. Martin ist gereizt, weil sie nicht da war, als er nach ihr gesucht hat. Und George … George zieht grinsend die Augenbrauen hoch. Nach dem Motto:
Was hast du so lange getrieben
? Und:
Ich überwache dich
.
Die Pläne auf dem Pergamentpapier verschwimmen vor ihren Augen. Ärgerlich verteilt sie Korrekturflüssigkeit auf den Küchenwänden. Sie sind total falsch und müssen anders gezeichnet werden.
«Geht’s dir gut?», fragt George und legt ihr die Hand auf die Schulter. Viel zu vertraut. «Du wirkst ein bisschen von der Rolle. Vielleicht gehst du lieber nach Hause.»
«Alles bestens, danke.» Ihr fällt nicht mal eine witzige Erwiderung ein. Der liebe George. Der knuddelige, gemütliche, harmlose George. Sie denkt an den Abend, an dem sie beide noch spät an dem Harts-Projekt gearbeitet haben und er eine Flasche Scotch aufgemacht hat, die Martin in seinem Büro hatte, und wie sie bis zwei Uhr nachts geredet hatten. Was hat sie damals gesagt? Sie durchforstet ihr Gehirn nach der Erinnerung. Sie hat über Kunst geredet und darüber, wie es ist, in Wisconsin aufzuwachsen, und warum sie Architektin werden wollte und über ihre Lieblingsgebäude, die sie am liebsten selbst gebaut hätte. Die hochaufragenden Gebäude von Adam and Sullivan mit ihren bildhauerischen Details. Was sie zu Pullman brachte und dazu, dass die Arbeiter in seinen Wohnkomplexen gezwungen waren, nach lächerlichen, bevormundenden Regeln zu leben. Und er hatte kaum ein Wort gesagt, hatte sie einfach faseln lassen. Hatte sie einfach sich selbst bezichtigen lassen.
Sie fühlt sich wie gelähmt. Sie kann es aussitzen. An ihrem Schreibtisch sitzen bleiben, bis alle anderen nach Hause gegangen sind, und sie kann versuchen, die Bedeutung von all dem zu verstehen. Sie könnte zu der Bar zurückgehen. Oder direkt nach Hause, um alles Abweichlerische und Staatsfeindliche zu beseitigen.
Es ist inzwischen nach fünf Uhr, und ihre Kollegen verschwinden einer nach dem anderen. Stewart geht als Erster. George ist einer der Letzten. Er hält sich unnötig auf, als würde er auf sie warten.
«Kommst du, oder soll ich dir die Schlüssel hierlassen?» Ihr fällt zum ersten Mal auf, dass seine Zähne zu groß für seinen Mund sind. Riesige weiße Zahnschmelzblöcke.
«Geh ruhig schon. Ich hab hier noch eine Nuss zu knacken, und wenn ich dabei draufgehe.»
Er runzelt die Stirn. «Du arbeitest doch schon den ganzen Tag daran.»
Sie hält es nicht mehr aus. «Ich weiß, dass du es warst.»
«Wie?»
«Die Comics. Das ist dumm und unfair.» Sie wird noch wütender, als sie bemerkt, dass ihr Tränen in die Augen steigen. Sie reißt sie auf, unterdrückt das Blinzeln.
«Diese Dinger? Die gehen doch schon seit Tagen im Büro rum. Warum regst du dich so darüber auf?»
«Oh», sagt sie. Das pure Ausmaß ihres Irrtums erschlägt sie beinahe und raubt ihr die Sprache.
«Schuldgefühle?» Er drückt ihre Schulter und hängt sich seine Tasche um. «Keine Sorge, Willie, ich weiß, dass du keine rote Socke bist.»
«Danke, George, ich …»
«Höchstens rosa.» Er lächelt nicht. Er legt die Schlüssel vor sie auf den Schreibtisch. «Ich will nicht, dass es bei diesem Regierungsprojekt irgendwelche Schwierigkeiten für die Firma gibt. Was du in deinem Privatleben treibst, ist mir egal, aber du sorgst dafür, dass es auch privat bleibt. Okay?» Er zielt mit dem Finger auf sie und krümmt ihn wie um den Abzug einer Pistole. Dann geht er hinaus.
Willie sitzt fassungslos an ihrem Schreibtisch. Man kann seine radikalen Zeitschriften vergraben, seine perversen Sexskizzen zerreißen und seine Bettwäsche verbrennen. Aber wie radiert man sich selbst aus?
Sie fährt vor Schreck beinahe aus der Haut, als es an der Tür klopft. Sie erkennt ein Männerprofil durch das Riffelglas, auf dem der Firmenname steht. Sie schämt sich, dass ihr als Erstes
FBI !
durch den Kopf fährt. Das ist lächerlich. Es muss einer ihrer Kollegen sein, vermutlich hat jemand etwas vergessen. Sie schaut sich im Büro um und sieht Abes Sakko über seiner Stuhllehne hängen. Also ist es nur Abe. Vermutlich steckt seine Brieftasche mit seiner Busfahrkarte in dem Sakko. Sie nimmt das Sakko von der Stuhllehne. Sie
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