Shining Girls (German Edition)

damit voll. Die Erdanziehungskraft ist furchtbar. Millionenfach verstärkt. Es ist nicht das Gewicht ihres Hundes, dessen Fell blutverklebt ist. Es ist das Gewicht der Welt. Sie spürt, dass sich aus ihrer Körpermitte etwas löst, warm und glitschig. Sie kann nicht darüber nachdenken.
    «Fast da. Fast da.»
    Die Bäume rücken vor einem geteerten Weg auseinander, der zum Landesteg führt. Der Angler steht immer noch dort. «Hilfe», röchelt sie, aber sie ist zu leise, er hört sie nicht.
    « HILFE », schreit sie, und der Angler dreht sich um, starrt sie an und löst einen Fehlschuss aus, sodass das rote Senkblei aus der Metallröhre auf dem Teer zwischen den aussortierten Heringen abprallt. «Was zum Teufel …» Er lässt seine Angelrute fallen und zerrt einen Stock aus seinem Karren. Er rennt auf sie zu, schwingt den Stock über seinem Kopf. «Wer hat das getan? Wo ist er? Hilfe! Ist da irgendjemand? Krankenwagen! Polizei!»
    Sie vergräbt ihr Gesicht in Tokyos Fell. Sie begreift, dass er nicht mehr mit dem Schwanz wedelt. Es die ganze Zeit nicht getan hat.
    Es war nur Physik. Der Ruck, den jeder Schritt verursacht hat. Reaktion und Gegenreaktion.
    Das Messer steckt immer noch seitlich in seinem Nacken. Es ist so tief in sein Rückgrat eingedrungen, dass der Tierarzt es herausoperieren muss, wobei er es für die Spurensuche praktisch unverwertbar macht. Deswegen konnte es der Mann nicht herausziehen und sein Vorhaben zu Ende bringen.
    Bitte nicht, aber sie schluchzt zu heftig, um es sagen zu können.

Dan
    24 . Juli 1992
    Im Dreamerz Club herrscht eine abartige Hitze. Und Lautstärke. Dan hasst die Musik, noch bevor die Band angefangen hat zu spielen. Und was für ein Name soll das sein, «Naked Raygun»? Und seit wann ist es angesagt, absichtlich verdreckt auszusehen? Ungepflegte Typen mit komischen Bärten und schwarzen T-Shirts laufen endlos auf der Bühne herum, bevor die Mitglieder der Band kommen, paradoxerweise ordentlicher angezogen als die anderen, und mit Gitarren und Ohrstöpseln und Tretschaltern herumwerkeln. Genauso endlos.
    Seine Schuhe bleiben kleben. Der Fußboden ist mit einer Mischung aus Bier und Zigarettenkippen überzogen. Aber immer noch besser als die Galerie, die mit echten Grabsteinen ausgelegt ist, während die Tapete in den Toiletten aus fotokopierten Flyern besteht. Der bizarrste wirbt für ein Theaterstück,
Delusius
, und zeigt eine Frau mit Gasmaske und High Heels. Im Vergleich dazu sehen die Jungs auf der Bühne absolut durchschnittlich aus.
    Er hat keine Ahnung, was er hier soll. Er ist nur gekommen, weil ihn Kirby darum gebeten hat, nachdem sie dachte, das Wiedersehen mit Fred könnte irgendwie unbehaglich werden. Und, verdammt, so ist es doch in dem Fall immer. Ihre erste Liebe, hat sie ihm erklärt. Was dazu führte, dass Fred zu einer Person wurde, die Dan
noch weniger
kennenlernen wollte.
    Fred ist so wahnsinnig jung. Und dumm. Jugendlieben sollten nicht zurückkommen, besonders nicht von der Filmhochschule. Und ganz besonders nicht, wenn sie die ganze Zeit darüber reden. Über Filme, von denen Dan noch nie gehört hat. Inzwischen sind die Kids von Art-House-Filmen zu irgendeinem Experimentalscheiß übergegangen. Das ist noch schlimmer, weil Fred versucht, ihn ins Gespräch einzubeziehen, weil er ja so ein guter Kerl ist, was ihn trotzdem, bitte beachten, noch nicht gut genug
für sie
macht.
    «Kennst du die Arbeiten von Rémy Belvaux, Dan?», fragt Fred. Sein Haar ist so kurz rasiert, dass es kaum mehr ist als ein dunkler Flaum auf seinem Schädel. Der Look wird von einem Ziegenbärtchen und einem dieser nervigen Piercings unter der Lippe abgerundet, die wie ein fetter Metallpickel aussehen. Dan muss sich beherrschen, um nicht auszuprobieren, ob der Pickel platzen kann. «Hat null Budget und sitzt in Belgien fest. Aber seine Arbeiten sind dermaßen selbstbewusst. So authentisch. Er lebt seine Arbeit richtig.»
    Dan denkt darüber nach,
seine Arbeit
auch mal richtig zu leben und jemandem einen Baseballschläger in die Fresse zu hauen, nur als Beispiel.
    Es ist ein Glück, dass die Band anfängt zu spielen, sodass jede Unterhaltung und auch sein Impuls, Fred zu ermorden, unmöglich wird. Mr. Erste Liebe bricht in schwachsinnige Begeisterungsschreie aus, drückt Dan sein Bier in die Hand und drängt sich durch die Menge nach vorn an die Bühne.
    Kirby beugt sich zu ihm und brüllt ihm etwas ins Ohr.
    « WAS ?», brüllt er zurück. Er umklammert sein Limonadenglas wie