Shining Girls (German Edition)
irgendwann der Gesprächsstoff ausgegangen ist. Seine Schuld, das weiß er. Es war wie ein Exorzismus für ihn, Bea zwanghaft die Sachen zu erzählen, die Harrison nicht drucken wollte. Die grässlichsten Einzelheiten und – schlimmer – auch die traurigsten. Die aufgegebenen Fälle, die Fälle, die nie gelöst wurden, bei denen die Ermittlungen nirgendwohin führten, die Kids mit den alleinerziehenden drogenabhängigen Müttern, die versuchten, in der Schule durchzuhalten, aber trotzdem in irgendeiner dunklen Ecke endeten. Aber von wie vielen grauenvollen Verbrechen kann sich jemand erzählen lassen, bevor er es nicht mehr aushält? Es war ein Fehler, das weiß er jetzt. Klischeeverhalten. Man erzählt solchen Mist nicht weiter. Und man zieht schon gar nicht die Menschen hinein, die man liebt. Er hätte ihr nie erzählen sollen, dass sich manche der Drohungen gegen sie richteten. Er hätte ihr nicht erzählen sollen, dass er für den Fall der Fälle eine Waffe gekauft hatte. Das war es, was sie dann so richtig zum Ausrasten brachte.
Er hätte eine Therapie machen sollen (ja, genau). Er hätte versuchen sollen, ein einziges Mal richtig zuzuhören. Vielleicht hätte er dann verstanden, was sie wirklich über Roger erzählte, den Schreiner, der ihnen den neuen Fernsehschrank gebaut hatte. «Man könnte ihn glatt für Jesus halten, so wie du über ihn redest», hatte er damals bloß gesagt. Tja, Roger konnte tatsächlich Wunder geschehen lassen. Hatte sie mitten aus Dans Leben weggezaubert. Hatte sie geschwängert, obwohl sie schon sechsundvierzig war. Was bedeutete, dass es die ganze Zeit an Dan gelegen hatte. Seine Spermienqualität hatte nicht ausgereicht. Aber er hatte ohnehin geglaubt, dass sie den Gedanken an Kinder schon vor Jahren aufgegeben hatte.
Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn sie öfter zusammen ausgegangen wären. Er hätte sie hier ins Dreamerz bringen können. (Gott, wie ihn dieses «z» nervt.) Oder vielleicht eher nicht hierher, aber irgendwohin, wo es schön ist. Zum Bluesabend im Green Mill. Oder sie hätten Spaziergänge am See machen können, Picknicks im Park, verflucht, sie hätten mit dem Orientexpress durch Russland fahren sollen. Irgendwas Romantisches und Abenteuerliches, statt im Alltagseinerlei hängen zu bleiben.
«An was denkst du?», schreit Kirby in sein Ohr. Sie hüpft wie ein irres Kaninchen auf und ab, im Takt der Musik, falls man behaupten kann, dass der Krach, der von der Bühne herunterschallt, einen Takt hat.
«Wahnsinn!», ruft er zurück. Vor ihnen versuchen ein paar Leute anscheinend, sich beim Tanzen gegenseitig wegzurempeln.
«Ist das ein gutes oder ein schlechtes ‹Wahnsinn›?»
«Das sag ich dir, wenn ich den Text verstehe. Und es sieht nicht so aus, als wäre das in absehbarer Zeit der Fall.»
Sie reckt den Daumen hoch und stürzt sich in die Masse der Pogotänzer. Gelegentlich tauchen ihr wildes Haar oder Freds rasierter Schädel über der wogenden Menge auf.
Er sieht zu, nippt an seiner Limonade, in der viel zu viele Eiswürfel waren, sodass sie sich jetzt in eine wässrige, geschmacklose, nur noch vage an Zitronen erinnernde Brühe verwandelt hat.
Nachdem die Band ihre Dreiviertelstunde und eine Zugabe runtergespielt hat, tauchen die beiden schwitzend und grinsend, und – Dan rutscht das Herz in die Hose – Händchen haltend wieder auf.
«Willst du immer noch was essen?», fragt Kirby und trinkt sein Glas leer, auch wenn kaum noch etwas anderes als geschmolzenes Eis darin ist.
Sie landen zusammen mit den letzten Nachtschwärmern aus anderen Clubs und Bars im El Taco Chino und essen die besten mexikanischen Gerichte, die er je von einem Plastikteller gegessen hat.
«Hey, weißt du, was, Kirbs», sagt Fred, als wäre ihm gerade ein Gedanke gekommen. «Du solltest einen Dokumentarfilm drehen. Über das, was dir passiert ist. Und über dich und deine Mom. Ich könnte dir dabei helfen. Bei der Uni das Equipment ausleihen, vielleicht für ein paar Monate hierher zurückziehen. Das wäre doch super.»
«Mmh», sagt Kirby. «Ich weiß nicht …»
«Das ist eine verdammte Scheißidee», schaltet sich Dan ein.
«Sorry – welche Qualifikationen hattest du noch mal, wenn’s ums Filmemachen geht?», sagt Fred.
«Ich kenne mich mit der Strafjustiz aus. Kirbys Fall ist noch nicht abgeschlossen. Falls sie den Typen jemals kriegen, könnte sich der Film vor Gericht nachteilig auswirken.»
«Ach so, dann sollte ich vielleicht lieber einen Film
Weitere Kostenlose Bücher