Shining Girls (German Edition)
auf ihre Füße, allerdings schielt der Jüngere kurz durch wahnsinnig lange Wimpern zu ihr hinauf, sodass Kirby froh ist, heute ein Halstuch zu tragen.
«Na gut. Und jetzt raus, bitte, danke. Und nehmt den Wasserhahn im Garten.» Ihre Mutter schiebt sie in den Vorgarten. Sie nehmen Geschwindigkeit auf wie gerade abgeschossene Raketen und flitzen johlend und brüllend davon.
«Kommen Sie rein. Ich habe gerade Eistee gemacht. Sie sind Kirby, oder? Ich bin Charmaine Williams.» Sie geben sich die Hand.
«Danke, dass Sie dazu bereit sind», fängt Kirby an, als Charmaine sie ins Haus führt, das genauso perfekt gepflegt ist wie der Garten. Ein Akt des Widerstandes, denkt Kirby. Denn das ist das Problem mit dem Tod, ob er nun durch Mord oder einen Herzinfarkt oder einen Unfall kommt: Das Leben geht weiter.
«Oh, ich weiß nicht, ob Ihnen die Sachen irgendetwas nützen, aber sie stehen herum und rauben mir den Platz, und die Männer vom Revier wollen sie nicht. Sie tun mir sogar einen Gefallen, ehrlich. Die Jungs werden sich freuen, wenn jeder sein eigenes Zimmer hat.» Sie öffnet die Tür eines kleinen Büros, dessen Fenster auf den Gartenweg hinter dem Haus hinausgeht. Das Zimmer ist von Kartons besiedelt, sie wuchern aus dem Boden und stapeln sich an den Wänden empor. Dem Fenster gegenüber hängt eine Filz-Pinnwand mit Familienbildern und einem Wimpel von den Chicago Bulls und einem blauen Band von der Bowling-Meisterschaft 1988 des Police Departments Chicago, und am Rand entlang klemmen alte Tippscheine; eine Pech-Bordüre.
«Hat er auf den Scheinen immer die Zahlen seiner Dienstnummer angekreuzt?», fragt Dan und betrachtet die Pinnwand. Er gibt keinen Kommentar zu dem Foto des toten Mannes ab, der mit ausgebreiteten Armen wie der gekreuzigte Jesus in einem Blumenbeet liegt, oder zu dem Polaroidbild einer Tasche mit Einbruchswerkzeug oder zu dem
Tribune
-Artikel «Prostituierte tot aufgefunden», die dort in beunruhigender Nähe zwischen den fröhlichen Familienandenken hängen.
«Sie kennen sie ja», sagt Charmaine und schaut stirnrunzelnd auf den Schreibtisch, einen Selbstbausatz aus dem Baumarkt, der unter all den Papieren kaum noch zu sehen ist, und im Besonderen schaut sie auf den gestreiften Kaffeebecher, in dem sich eine feine Schimmelschicht gebildet hat.
«Ich hole Ihnen schnell den Eistee», sagt sie und schnappt sich den Becher.
«Es ist unheimlich hier», findet Kirby und lässt ihren Blick durch den Raum und die schmerzhaft bloßgelegten Überbleibsel vergangener Ermittlungen schweifen. «Als würden hier Geister umgehen.» Sie nimmt einen Briefbeschwerer aus Glas in die Hand, der mit dem Hologramm eines Adlers mit ausgebreiteten Schwingen verziert ist, und legt ihn wieder hin. «Ich schätze, so ist es wirklich.»
«Du hast gesagt, du willst einen Zugang haben. Das hier ist einer. Mike hat in sehr vielen Frauenmorden ermittelt, und er hat all seine Notizen zu alten Fällen aufbewahrt.»
«Gehören die nicht normalerweise zu den Beweismitteln?»
«Die entscheidenden Dinge schon. Das blutige Messer, die Zeugenaussagen. Es ist wie in Mathe, du musst genau zeigen, wie du zu deinem Ergebnis gekommen bist, aber bevor man dort ist, gibt es viel Herumgemurkse, Verhöre, die nirgendwohin führen, und Beweise, die zunächst einmal irrelevant zu sein scheinen.»
«Du treibst mir auch noch den letzten Rest Vertrauen aus, den ich in unser Rechtssystem hatte, Dan.»
«Mike war einer von den Cops, die sich für eine Verfahrensänderung stark gemacht haben. Damit die Ermittler gezwungen werden, absolut alles aufzubewahren. Er fand, dass es bei der Polizei eine Menge zu verbessern gab.»
«Harrison hat mir von deiner Recherche zu den Folterverhören erzählt.»
«Große Klappe, wie üblich. Ja, dieser Mike war mein Informant bei der Sache, bis sie angefangen haben, Charmaine und die Jungs zu bedrohen. Ich mache ihm keinen Vorwurf daraus, dass er sich zurückgezogen hat. Er hat sich nach Niles versetzen lassen, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Aber er hat jedes Stück Papier aufbewahrt, das bei einer Mordermittlung über seinen Schreibtisch gewandert ist, und auch jedes andere, das er in die Finger bekam. Dann gab es in einem der Polizeireviere Probleme mit der Feuchtigkeit, und er hat eine Menge Akten gerettet und sie hierhergebracht. Einiges von dem Zeug ist nicht mehr zuzuordnen. Ich glaube, er hat sich vorgestellt, dass er nach seiner Pensionierung alles durchsortiert und alte Fälle löst. Oder ein
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