Shining Girls (German Edition)
nachlässig. Er muss zurückgehen und überprüfen, ob sie tot ist. Und er muss sich ein anderes Messer kaufen.
Noch etwas zehrt an seinen Nerven. Er könnte schwören, dass in dem Haus Zeug weggekommen ist. Ein paar Kerzenständer vom Kaminsims. Löffel aus der Schublade. Es verunsichert ihn.
Vergewisserung. Mehr braucht er nicht. Die Architektin umzubringen war perfekt. Er will es noch einmal sehen. Ihm ist heiß vor Erwartung. Er ist sicher, dass ihn niemand erkennen wird. Er nimmt die Krücke nicht mit. Aber das genügt nicht.
Harper tippt grüßend an seine Hutkrempe, als er an dem schwarzen Portier vorbeigeht, dann nimmt er die Treppe zum dritten Stock. Es berauscht ihn zu sehen, dass es ihnen nicht gelungen ist, das viele Blut von den schimmernden Fliesen zu entfernen. Er wird so steif, dass es wehtut, und er fasst sich durch die Hosentasche an und unterdrückt ein lustvolles Stöhnen. Er lehnt sich an die Wand und zieht sein Jackett nach vorn, um die eindeutigen, ruckartigen Bewegungen seiner Hand zu verstecken. Er denkt an die Kleidung, die sie trug, daran, wie rot ihr Lippenstift war. Heller als Blut.
Die Tür von Crake&Mendelson wird aufgerissen, und ein wuchtiger Mann mit dichtem Haar und rotgeäderten Augen baut sich vor ihm auf. «Was zum Teufel treiben Sie hier?»
«Entschuldigen Sie.» Harper versucht sich mit einem Namen herauszureden, den er an einer der Türen gegenüber abliest. «Ich suche die Chicago Dentistry Society.»
Aber der Portier ist ihm nach oben gefolgt und zeigt mit dem Finger auf ihn. «Das ist er! Das ist das Schwein! Ich habe gesehen, wie er aus dem Gebäude gegangen ist. Er war überall mit ihrem Blut beschmiert.»
Harper wird auf dem Polizeirevier sieben Stunden lang verhört. Der eine Cop ist ein schlaksiges Fliegengewicht, das weit über seiner Gewichtsklasse boxt, der andere ein dicklicher, langsam kahl werdender Detective, der rauchend auf seinem Stuhl sitzt. Sie wechseln zwischen Reden und Prügeln. Dass er keinen Termin bei der Chicago Dentistry Society hat und dass das Stevens Hotel, das er als seine Unterkunft angegeben hat, schon seit Jahren nicht mehr so heißt, macht es nicht besser.
«Ich bin von außerhalb, Jungs», versucht er sich lächelnd zu verteidigen, bevor ihm eine Faust seitlich an den Kopf knallt, sodass seine Ohren klingeln, seine Zähne wehtun und sein Kiefer wieder aus dem Gelenk zu springen droht. «Ich habe es doch schon gesagt: Ich bin Handelsreisender.» Der nächste Hieb, dieses Mal unter sein Brustbein, treibt ihm die Luft aus den Lungen. «Zahnhygiene-Produkte.» Der folgende Schlag befördert ihn auf den Boden. «Ich habe meinen Musterkoffer versehentlich in der El stehen lassen. Können wir es nicht so machen, Jungs? Ihr lasst mich eine Gepäckverlustmeldung schreiben …» Der dicke, kahl werdende Officer tritt ihm in die Nierengegend, doch der Tritt streift ihn nur. Er sollte das Prügeln seinem begabteren Kollegen überlassen, denkt Harper und grinst immer noch.
«Findest du das lustig? Was ist denn so komisch, du Scheißkerl?» Der dünne Cop beugt sich herunter und bläst Harper den Rauch seiner Zigarette ins Gesicht. Harper weiß, dass er diese Situation nur durchstehen muss. Aber wie sollte er dieses Wissen erklären? Er weiß, dass er es zu dem Haus zurück schafft, weil dort immer noch die Namen von Mädchen an der Wand stehen, deren Schicksal sich noch nicht erfüllt hat. Aber er hat einen Fehler gemacht, und dies ist nun die Strafe dafür.
«Sie haben den Falschen erwischt», keucht er zwischen zusammengebissenen Zähnen.
Sie nehmen ihm die Fingerabdrücke ab. Sie lassen ihn für ein Fahndungsfoto an einer Wand Aufstellung nehmen und ein Schild mit einer Nummer halten. «Und grins nicht, verdammt, sonst reiß ich dir dein Grinsen aus der Visage. Eine junge Frau ist tot, und wir wissen, dass du es warst.»
Aber sie haben keine ausreichenden Beweise, um ihn festzuhalten. Der Portier ist nicht der einzige Zeuge, der ihn das Gebäude hat betreten sehen, aber sie schwören alle, dass er gestern glatt rasiert war und eine Drahtvorrichtung um den Mund trug. Und jetzt hat er einen zwei Wochen alten Bart, an dem sie mit ihren fetten Bullenfingern gezogen haben, um sicher zu sein, dass er nicht angeklebt ist. Noch dazu ist nicht die winzigste Blutspur an ihm zu finden und keine Spur von der Mordwaffe – die er normalerweise in seiner Tasche hat –, weil sie fünfunddreißig Jahre später im Nacken eines toten Hundes
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