Shining
Overlook zerstören und verbrennen, ein Geheimnis, das keine lebende Seele je würde aufdecken können. Dann die Gasexplosion, ein donnernder Flammenschwall, eine riesige Fackel, die das ganze Innere des Hotels in eine gigantische Bratröhre verwandeln würde. Die Treppen und Flure und Decken würden brennen wie ein Schloss am Ende eines Frankensteinfilms. Die Flammen würden sich zu den Flügeln ausbreiten, wie eilige Gäste über den schwarzblauen Teppich huschen. Die Seidentapeten würde zerknittern und verkohlen. Es gab keine Sprinkler, nur die altmodischen Wasserschläuche, und es war niemand da, der sie bedienen konnte. Und keine Feuerwehr der Welt konnte hier vor März nächsten Jahres eintreffen. Burn, Baby, burn. In zwölf Stunden würden nur noch die Grundmauern stehen.
Die Nadel des Druckmessers war auf zweihundertzwölf gestiegen. Die Kessel knackten und stöhnten wie eine alte Frau, die aus dem Bett aufstehen will. Zischend spielte der Dampf um die Ränder der alten Flickstellen; kleine Tropfen Lötblei fingen an zu sieden.
Er sah nicht. Er hörte es nicht. Seine Hand lag wie angefroren auf dem Ventil, mit dem er den Druck verringern und die Explosion verhindern konnte. Jacks Augen leuchteten wie Saphire aus den Höhlen.
(Es ist meine letzte Chance.)
Das einzige, was sie bis jetzt noch nicht kassiert hatten, war das Geld aus der Versicherung, die Wendy und er im Sommer zwischen ihrem ersten und zweiten Jahr in Stovington gemeinsam abgeschlossen hatten.
Vierzigtausend Dollar im Todesfall, die doppelte Summe, wenn er oder sie bei einem Unfall ums Leben kamen.
(Ein Feuer … achtzigtausend Dollar.)
Sie hätten noch Zeit rauszukommen. Selbst wenn sie schliefen, würden sie noch rauskommen. Davon war er überzeugt. Und er glaubte auch nicht, dass die Hecken oder irgend etwas anderes versuchen würde, sie aufzuhalten, wenn das Overlook in Flammen aufging.
(Flammen.)
Die Nadel hinter der schmierigen, fast undurchsichtigen Scheibe war auf hundertfünfzehn Pfund pro Quadratzoll geklettert. Noch eine Erinnerung fiel ihm ein. Eine Kindheitserinnerung. In den unteren Zweigen eines Apfelbaums hinter ihrem Haus war ein Wespennest gewesen. Einer seiner Brüder – er wusste nicht mehr genau welcher – war gestochen worden, als er in dem alten Reifen schaukelte, den Daddy an einen der dickeren Äste des Baums gehängt hatte. Es war Spätsommer gewesen, wenn die Wespen am bösartigsten sind.
Ihr Vater war in seiner weißen Hospitalkleidung und nach Bier riechend gerade nach Hause gekommen. Er hatte die Söhne Brett, Mike und den kleinen Jacky um sich versammelt und ihnen erzählt, dass er mit den Wespen aufräumen wolle.
»Jetzt passt auf«, hatte er gesagt und dabei gelächelt und ein wenig geschwankt (damals hatte er den Stock noch nicht gehabt, denn der Unfall mit dem Lieferwagen lag noch in ferner Zukunft). »Vielleicht werdet ihr etwas lernen. Mein Vater hat es mir gezeigt.«
Er hatte einen großen Haufen feuchter Blätter zusammengeharkt und sie unter den Zweig geschoben, an dem das Wespennest hing, eine tödlichere Frucht als die geschrumpften aber schmackhaften Äpfel, die sie in der letzten Septemberhälfte von diesem Baum ernten wollten. Aber das würde noch einen halben Monat dauern. Er zündete die Blätter an. Der Tag war klar und windstill. Die Blätter brannten nicht richtig, sondern schwelten und verursachten einen Geruch – ein Aroma – an dem er sich jeden Herbst wieder freute, wenn die Männer in Arbeitshosen und leichten Windjacken die Blätter zusammenharkten und verbrannten. Ein süßer, eindringlicher Geruch mit einem leicht bitteren Einschlag. Die schwelenden Blätter produzierten dichte Rauchschwaden, die zu dem Nest aufstiegen und es verhüllten.
Ihr Vater hatte die Blätter den ganzen Nachmittag schwelen lassen und dabei auf der Veranda Bier getrunken und die leeren Black-Label-Dosen in den Plastikkücheneimer seiner Frau geworfen, während seine beiden älteren Söhne links und rechts neben ihm saßen und der kleine Jack sich auf der Treppe mit irgendeinem Spielzeug beschäftigte und dabei immer wieder monoton sang: »Your cheating heart … will make you weep … your cheating heart … is gonna tell on you.«
Um viertel vor sechs, kurz vor dem Abendessen, war Daddy wieder zum Apfelbaum gegangen, wobei seine Söhne sich vorsichtig zurückhielten. Er hatte eine Gartenhacke in der Hand. Damit scharrte er die Blätter auseinander und ließ die letzten noch schwelenden Reste zum
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