Shining
genug sein würde, ihr Vorwürfe zu machen. Sie überlegte sich auch, wohin sie gehen könnten. Sie zweifelte nicht daran, dass ihre Mutter sie aufnehmen würde. Sie zweifelte aber auch nicht daran, dass ihre Mutter ständig etwas auszusetzen haben würde. Sie würde ihn ständig neu wickeln, ihm andere Nahrung bereiten, ihn anders kleiden und ihm die Haare anders schneiden. Später würde sie die Bücher, die sie für ungeeignet hielt, auf den Boden verbannen. Diese Dinge auch nur ein Jahr lang hinzunehmen, würde sie an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringen. Und ihre Mutter würde ihr die Hand tätscheln und begütigend sagen: Obwohl es nicht deine Schuld ist, ist es ganz allein deine Schuld. Du warst noch nicht reif genug. Und dein wahres Gesicht hast du gezeigt, als du dich zwischen mich und deinen Vater stelltest.
Mein Vater, Dannys Vater. Meiner, seiner.
In der Nacht, in der Jack und Al den Unfall hatten, hatte sie fast bis zu seiner Rückkehr wachgelegen, hatte nachgedacht und war zu einer Entscheidung gelangt.
Eine Scheidung war unvermeidlich, sagte sie sich. Ihre Eltern hatten mit diesem Entschluss nicht das geringste zu tun. Auch nicht ihre Schuldgefühle im Zusammenhang mit deren Ehe oder das Gefühl ihrer eigenen Unzulänglichkeit. Sie musste es ihres Sohnes und ihrer selbst wegen tun, wenn sie überhaupt noch etwas von ihrer frühen Erwachsenenzeit retten wollte. Die Schrift an der Wand war brutal, aber deutlich. Ihr Mann war Säufer. Seit er so schwer trank und es mit seiner Schriftstellerei nicht mehr klappte, konnte er sein ohnehin launisches Temperament schon gar nicht mehr unter Kontrolle halten. Ob aus Versehen oder nicht, er hatte Danny den Arm gebrochen. Er würde seinen Job verlieren, wenn nicht in diesem, dann im nächsten Jahr. Die mitleidigen Blicke der Ehefrauen seiner Kollegen waren ihr nicht entgangen. Sie sagte sich, dass sie ihre schlimme Ehe jetzt lange genug ausgehalten hatte. Nun musste Schluss sein. Sie würde Jack gern Besuchsrecht zugestehen, und Unterhalt brauchte er nur zu zahlen, bis sie selbst etwas gefunden hatte, das ihr auf die Beine helfen konnte – und das würde bald sein müssen, denn sie wusste nicht, wie lange Jack noch in der Lage sein würde, den Unterhalt für sie zu bestreiten. Sie wollte alles mit so wenig Bitterkeit wie möglich abwickeln. Aber es musste ein Ende haben.
Mit diesen Gedanken war sie in einen unruhigen Schlaf gesunken, und die Gesichter ihrer Mutter und ihres Vaters hatten sie bis in ihre Träume verfolgt. Du zerstörst nur wieder einmal eine Ehe, sagte ihre Mutter. Der Brautvater möge vortreten, sagte der Pfarrer, und ihr Vater trat vor. Aber am nächsten Morgen, der hell und sonnig war, hatte sie noch immer die gleiche Meinung. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, die Hände im warmen Spülwasser, und fing an, über diese unangenehmen Dinge zu reden.
»Ich möchte mit dir besprechen, was für Danny und mich am besten ist. Vielleicht auch für dich. Ich glaube, wir hätten schon lange darüber sprechen sollen.«
Und dann hatte er etwas Sonderbares gesagt. Sie hatte einen Wutanfall oder bittere Vorwürfe erwartet. Sie hatte erwartet, dass er an die Hausbar rennen würde. Nicht aber diese leise, tonlose Antwort, die so gar nicht zu ihm passte. Es war fast so, als ob in der letzten Nacht ein anderer Jack nach Hause gekommen war als der, mit dem sie sechs Jahre zusammengelebt hatte – als ob er durch einen unwirklichen Doppelgänger ersetzt worden war, den sie nie kennen und dessen sie nie sic her sein würde.
»Würdest du mir einen Gefallen tun?«
»Welchen?« Sie musste sich zusammennehmen, damit ihre Stimme nicht zitterte.
»Wir reden in einer Woche darüber. Wenn du dann noch willst.«
Sie war einverstanden gewesen. Es blieb unausgesprochen. In dieser Woche hatte er häufiger als sonst Al Shockley besucht, aber er kam immer früh nach Hause und roch nicht nach Alkohol. Sie bildete es sich zwar immer ein, aber sie wusste, dass es nicht der Fall war. Eine weitere Woche verging. Und noch eine.
Die Scheidung ging an den Ausschuss zurück, kam nicht zur Abstimmung.
Was war geschehen? Das fragte sie sich immer noch, und sie hatte immer noch nicht die geringste Ahnung. Das Thema war zwischen ihnen tabu. Er war wie ein Mann, der um eine Ecke geschaut und ein lauerndes Ungeheuer erblickt hatte, umgeben von den bleichenden Knochen seiner früheren Opfer. Die Hausbar blieb weiterhin gut sortiert, aber er rührte den Alkohol nicht an. Sie
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