Shining
hatte schon ein Dutzend Mal daran gedacht, die Flaschen wegzuwerfen, war aber immer wieder davor zurückgeschreckt, als würde durch diese Handlung ein unbekannter Zauber gebrochen.
Und man musste auch Dannys Rolle in der Angelegenheit bedenken. Wenn sie ihren Mann schon nicht zu kennen glaubte; vor ihrem Kind empfand sie Furcht – Furcht im wahrsten Sinne des Wortes: eine Art schwer zu beschreibender abergläubischer Angst.
Im Halbschlaf erinnerte sie sich an den Augenblick seiner Geburt. Sie lag auf dem Kreißtisch, schweißgebadet, das Haar in Strähnen, die Füße in den Schlaufen.
(Und, von dem eingeatmeten leichten Betäubungsgas ein wenig high, hatte sie einmal gemurmelt, sie käme sich vor wie eine Werbung für Massenvergewaltigung, und die Schwester, eine alte Henne, die schon so vielen Kindern auf die Welt geholfen hatte, genug um eine Oberschule zu bevölkern, hatte das sehr komisch gefunden).
Der Arzt zwischen ihren Beinen, die summende Schwester neben ihr an den Instrumenten. Der scharfe, schneidende Schmerz, der sie in immer kürzeren Zeitabständen durchfuhr, und mehrere Male hatte sie laut geschrien, wenn sie sich auch dafür schämte.
Streng befahl ihr der Arzt dann, zu PRESSEN, und sie tat es und spürte, wie etwas von ihr genommen wurde. Das Gefühl war klar und deutlich, und sie würde es nie vergessen – etwas war von ihr genommen worden. Der Arzt hielt ihren Sohn an den Beinen hoch – sie hatte sein winziges Geschlechtsteil gesehen und gleich gewusst, dass es ein Junge war –, und als der Arzt nach der Beatmungsmaske griff, hatte sie etwas anderes gesehen, etwas so Grauenhaftes, dass sie die Kraft fand, erneut laut aufzuschreien, obwohl sie eigentlich keine Schreie mehr hatte:
Er hat kein Gesicht!
Aber natürlich war da ein Gesicht, Dannys niedliches Gesicht, und die innere Embryonalhülle, die es bei der Geburt bedeckt hatte, lag nun in einem kleinen Glas, das sie fast schamhaft aufbewahrt hatte. Sie hielt nichts von altem Aberglauben, aber die Hülle hatte sie trotzdem behalten. Sie glaubte nicht an Altweibergeschwätz, aber der Junge war von Anfang an ungewöhnlich gewesen. Sie glaubte nicht an das Zweite Gesicht, aber -
Hat Daddy einen Unfall gehabt? Ich habe geträumt, Daddy hat einen Unfall gehabt.
Irgend etwas hatte ihn verändert. Ihr Versuch, über Scheidung zu reden, konnte es allein nicht gewesen sein. Irgend etwas musste vor jenem Morgen geschehen sein. Während sie unruhig schlief, musste es passiert sein. Al Shockley sagte, dass nichts gewesen sei, gar nichts, aber als er es sagte, hatte er den Blick abgewandt, und wenn man dem Fakultätstratsch glauben durfte, war auch er auf den Zauberwagen gestiegen.
Hat Daddy einen Unfall gehabt?
Vielleicht einen Zusammenstoß mit dem Schicksal, sicherlich nichts wesentlich Konkreteres. Sie hatte an jenem Tag und auch am nächsten die Zeitung aufmerksamer als sonst gelesen, aber sie fand nichts, das sie mit Jack in Verbindung bringen konnte. Sie hatte an Fahrerflucht gedacht, Gott behüte, oder an eine Prügelei in einer Bar, bei der es ernste Verletzungen gegeben hatte oder … wer wusste es? Wer wollte es wissen? Aber kein Polizeibeamter tauchte auf, um Fragen zu stellen oder die Stoßstange des VW auf Lackspuren zu untersuchen. Nichts. Ihr Mann hatte sich lediglich um hundertachtzig Grad gedreht. Und dann morgens, noch im Halbschlaf, die Frage ihres Sohnes:
Hat Daddy einen Unfall gehabt? Ich habe geträumt …
Sie war wegen Danny bei Jack geblieben, wenn sie es im wachen Zustand auch nicht wahrhaben wollte. Aber jetzt, während sie unruhig schlief, konnte sie es sich eingestehen: Danny und Jack waren fast von Anfang an ein Herz und eine Seele gewesen, genau wie es früher zwischen ihr und ihrem Vater gewesen war. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Danny je einen Schluck aus der Flasche auf Jacks Hemd gespuckt hätte. Jack brachte ihn zum Essen, nachdem sie selbst schon angewidert aufgegeben hatte, und das auch, während er zahnte, als ihm das Essen Schmerzen bereitete. Wenn Danny Bauchschmerzen hatte, musste sie ihn eine Stunde lang wiegen, bevor er Ruhe gab; Jack brauchte ihn nur auf den Arm zu nehmen und zweimal mit ihm im Zimmer auf und ab gehen, und dann schlief Danny auch schon an Jacks Schulter, den Daumen im Mund.
Es hatte Jack nichts ausgemacht, die Windeln zu wechseln, selbst bei denen nicht, die nicht nur nass waren. Stundenlang ließ er Danny bei sich auf dem Schoß reiten, spielte Fingerspiele mit ihm
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