Shining
unten gestiegen war. Seine Hände und Arme waren dreckig, und wahrscheinlich roch er nicht gut. Er beschloss zu duschen, bevor Wendy und Danny zurückkamen.
Langsam bewegte er sich zwischen den Papierbergen umher und dachte angestrengt nach. Die Schnelligkeit, mit der ihm die verschiedensten Möglichkeiten durch den Sinn gingen, war äußerst anregend. So hatte er sich schon seit Jahren nicht mehr gefühlt. Es schien plötzlich, als könnte das Buch, das er sich halb im Scherz versprochen hatte, tatsächlich entstehen. Vielleicht lag es gleich hier in diesen verstaubten Papierhaufen begraben. Es könnte ein Roman werden oder etwas Historisches, vielleicht beides – ein umfangreiches Buch, das von hier aus in hundert Richtungen explodieren würde.
Er stand unter der immer noch mit Spinnweben verhangenen Glühbirne, zog gedankenverloren sein Taschentuch hervor und rieb sich damit die Lippen. Und in diesem Augenblick sah er die Sammelmappe. Links von ihm standen fünf Kartons wacklig aufgetürmt. Der oberste war ebenfalls voll Rechnungen, und auf ihm lag eine dicke Sammelmappe, die schon viele Jahre so gelegen haben mochte. Sie hatte einen Ledereinband und war mit zwei Goldbändern verschnürt, die zu prächtigen Schleifen gebunden waren.
Neugierig ging er hinüber und nahm sie herunter. Auf dem Einbanddeckel lag eine dicke Staubschicht. Er hielt die Mappe in Mundhöhe und blies eine Wolke von Staub weg. Als er die Mappe öffnete, flatterte eine Karte heraus, die er in der Luft auffing. Es war eine dicke cremefarbene Karte, und das Auffälligste an ihr war eine erhaben eingravierte Ansicht des Overlook mit hell erleuchteten Fenstern. Der Rasen und der Spielplatz waren mit brennenden japanischen Lampions dekoriert. Es wirkte fast so, als könnte man gleich hineingehen. Es war das Overlook Hotel, wie es vor dreißig Jahren aussah.
Horace M. Derwent gibt sich die Ehre,
Sie herzlich einzuladen
zu einem Maskenball, mit dem die Eröffnung des
OVERLOOKHOTEL
gefeiert wird.
Dinner um 20.00 Uhr
Demaskierung und Tanz um Mitternacht
Dinner um acht! Demaskierung um Mitternacht!
29. August 1945 RSVP
Fast sah er sie im Speisesaal vor sich, die reichsten Männer Amerikas und ihre Frauen. Smokings und glänzend gestärkte Hemden; Abendkleider; die Band mit festlichen Klängen; glitzernde hochhackige Pumps. Das Klingen der Gläser, das Knallen der Champagnerkorken. Der Krieg war vorbei, oder fast vorbei. Die Zukunft schien hell und klar. Amerika war die stärkste Macht der Welt und wusste und akzeptierte es endlich. Und später, um Mitternacht, würde Derwent höchstpersönlich rufen:
»Die Masken ab! Die Masken ab!« Und die Masken würden fallen und … (Der Rote Tod hatte sie alle in seiner Gewalt!)
Er runzelte die Stirn. Aus welcher Ecke war das gekommen? Das war Poe, der große amerikanische Schriftsteller. Und dabei lagen Welten zwischen dem Overlook – dem herrlich beleuchteten Overlook auf der Einladung in seiner Hand – und Edgar Allan Poe.
Er legte die Einladung zurück und nahm sich die nächste Seite vor. Ein eingeklebter Ausschnitt aus einer in Denver erscheinenden Zeitung. Darunter war das Datum gekritzelt: 15. Mai 1947.
FEUDALES BERGHOTEL NEUERÖFFNET
STAR-GÄSTELISTE
Derwent: Overlook wird Sehenswürdigkeit
für ganze Welt
Von David Feiton, Sonderkorrespondent
In seiner achtunddreißigjährigen Geschichte wurde das Overlook Hotel schon mehrmals eröffnet und wiedereröffnet, aber noch nie mit solchem Elan und in solchem Stil, wie ihn Horace Derwent, der geheimnisumwobene kalifornische Millionär, seit kurzem Eigentümer des Hotels, ankündigte.
Derwent, der kein Geheimnis daraus macht, dass er in sein jüngstes Unternehmen mehr als eine Million Dollar investiert hat – und einige behaupten, es seien eher drei Millionen gewesen – sagt, dass »das neue Overlook eine der Sehenswürdigkeiten der Welt darstellen wird, ein Hotel, in dem übernachtet zu haben, man sich noch nach dreißig Jahren erinnern wird.«
Als Derwent, dem man bedeutende Beteiligungen in Las Vegas nachsagt, gefragt wurde, ob der Kauf und die Renovierung des Hotels durch ihn die Eröffnung einer Kampagne für die Legalisierung des Glücksspiels in Colorado signalisiere, wies das der Flugzeugbau-, Kino-, Rüstungs- und Schiffahrtsmagnat mit einem Lächeln zurück.
»Das Overlook würde sich durch Glücksspielbetrieb billig machen«, sagte er, »und ich glaube nicht, dass ich Las Vegas Konkurrenz machen möchte.
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